A
Abwärts-Effekte
Folgen von Veränderungen in komplexen Systemen (z.B. soziale Ebene) auf den Stufen der Individuen, Organe und Zellen.
Anamnese
Das Erstgespräch des Arztes mit dem Patienten, der subjektiv erinnerliche Informationen zu seiner Gesundheit und Krankheit berichtet. Die biografische Anamnese umfasst über die aktuelle und frühere Krankheiten hinaus die gesamte Lebensgeschichte des Patienten.
Funktionen der Anamnese sind Kommunikation und Interaktion (Aufbau einer begrenzten gemeinsamen Wirklichkeit, Arbeitsbündnis mit dem Patienten), Information (Sammeln und Gewichtung der Informationen) sowie Integration (z.B. somatische, psychische und soziale Ebene).
Aufwärts-Effekte
Konsequenzen der Veränderungen auf den einfacheren Systemstufen für die komplexeren System- und Supra-System-Stufen.
Autarkie
Der Gegenbegriff zu Autonomie. Für den Begriff der Autarkie ist die pathologische Vorstellung charakteristisch, von allem unabhängig und für alles allein verantwortlich zu sein (z.B. als Symptom bei Patienten mit Anorexia nervosa).
Autonomie
Autonomie ist die Fähigkeit, frei entscheiden und über seine Kräfte verfügen zu können (= Willensfreiheit). Dies setzt Passung, d.h. das Ergänztwerden der eigenen Leistungen durch passende Gegenleistungen voraus. Alle Leistungen biologischer und sozialer Systeme sind ergänzungsbedürftig, d.h. da Leistungen nur zusammen mit der ergänzenden Gegenleistung der Umgebung ablaufen können, setzt Autonomie eine passende Umwelt voraus: z.B. Atmung der Lungen eine passende atmosphärische Luft, Stehen und Gehen einen Halt gebenden Boden, Sprechen – Zuhören oder Fragen – Antworten.
Autonomie ist nicht nur ein Ausdruck für Gesundheit, sondern auch für das Ausmaß sozialer Integration. Dieser Punkt ist unter dem Aspekt der Bedeutung sozialer Unterstützung (social support) als protektiver Faktor wichtig.
Der Gegensatz zu Autonomie (Eigengesetzlichkeit) ist Heteronomie (Fremdgesetzlichkeit), z.B. Bewegungen, die durch mechanische Ursachen bewirkt sind. Der Unterschied entspricht den Modellen der trivialen und nicht-trivialen Maschine (H. V. FOERSTER).
Autopoiese
Autopoiese charakterisiert sich durch die Autonomie eines Lebewesens in seiner Interaktion mit der Umwelt, d.h. dass es sich andauernd selbst erzeugt. Kognitiv befähigte Systeme können rekursiv an Eigenzustände anknüpfen und sie zum Ausgangspunkt weiterer rekursiver Operationen machen (MATURANA 1982).
B
Bedeutung
Für die Philosophie und Sprachwissenschaft ist "Bedeutung" ein problematischer Begriff, vor allem auch der Unterschied zu "Sinn" (FREGE, WITTGENSTEIN).
Nach C. S. PEIRCE ist die Bedeutung der "Interpretant", der Zeichen und Bezeichnetes zu einem Zeichenprozess (Semiose) verbindet.
Für G. B. BATESON handelt es sich bei der Bedeutung um eine "elementare Idee", die Organismus und Umwelt durch einen kybernetischen Prozess (als "kleinster Einheit des Geistes") zusammenschließt.
Für J. V. UEXKÜLL (1940) ist Bedeutung ein zentraler Begriff der Biologie: "Der Leitstern, nach dem sich die Biologie zu richten hat, und nicht die armselige Kausalregel." Die Bedeutungsregel ist für ihn die Überbrückung zweier Elementarregeln, d.h. die Instanz oder der Begriff, der zwei Phänomene zu einem sinnvollen Zusammenhang verknüpft.
Bedeutungserduldung
Die Vorstellung, dass die Umgebung oder ein anderes lebendes System der Bedeutungserteilung entspricht.
Bedeutungserteilung
Jedes Bedürfnis eines Lebewesens produziert eine bestimmte Bedeutung, die aus der neutralen Umgebung die Vorgänge auswählt, die für die Befriedigung des Bedürfnisses "passen", d.h. die Rezeptoren eines lebenden Organismus verwandeln (kodieren) Einwirkungen der Umgebung zu Merkzeichen und erteilen damit Teilen der Umgebung ein Merkmal.
Bedeutungskoppelung
Zeichen, die im Körper Nachrichten über die Bedeutung einer Organreaktion für andere Organe übertragen, werden mit Zeichen zusammengekoppelt, die den Organismus über die Bedeutung von Vorgängen in seiner Umgebung informieren. Die Bedeutungskoppelung erteilt einem zuvor neutralen, d.h. für den Organismus nicht existenten Ausschnitt der Umgebung eine Bedeutung als psychisch erlebte Zeichen für die Steuerung des Verhaltens und erweitert damit die subjektive Umwelt.
Bedeutungsträger
Physikalische oder chemische Vorgänge, welche Rezeptoren eines Lebewesens verändern und von diesen mit einer Bedeutung "befrachtet" werden, die andere Lebewesen, deren Rezeptoren von den gleichen Vorgängen verändert werden, nachvollziehen können.
Bedeutungsverwertung
Erprobung der Praktikabilität der Interpretation der Sensorik durch die Motorik, z.B. in der "sensomotorischen Zirkulärreaktion" (PIAGET).
Bedürfnis
Bedürfnis ist die Empfindung eines Mangels, verbunden mit dem Wunsch, ihn zu beheben, bzw. ist das infolge von Bedarfs- und Mangelzuständen auftretende Spannungsgefälle, das die Aktivität des Individuums stimuliert und zu konkreten Zielvorstellungen führt, die auf die Beseitigung des zugrunde liegenden Mangels gerichtet sind.
Nach PIAGET (1936) lässt sich Bedürfnis als "die Tatsache einer momentan unvollendeten Ganzheit" definieren, die nach Vollendung trachtet: Nach einer bekannten Definition bilden "die Bedürfnisse den Übergang vom organischen Leben, aus dem sie entspringen, zum psychischen Leben, dessen Motor sie darstellen". "Aber" – fragt PIAGET –, "wenn das Bedürfnis der Motor jeder Tätigkeit ist, wie vermag es dann die zu seiner Befriedigung notwendigen Bewegungen zu orientieren?" Seine Antwort: "Könnten die Schwierigkeiten (dies Problem zu lösen) nicht einfach dadurch entstehen, dass man das Bedürfnis von der in ihrer Gesamtheit betrachteten Handlung lostrennt? Die primären Bedürfnisse existieren ja nicht vorrangig und außerhalb der Prozesse und Mechanismen, die zu ihrer Befriedigung führen. Im Gegenteil, sie treten erst während der Tätigkeit dieser Funktionen in Erscheinung. ... Viel richtiger wäre es zu sagen, dass sie ihr entspringen. Es besteht also ein Kreis ohne Anfang und Ende" (PIAGET 1969).
Beobachter
Beobachtung ist immer schon Interpretation des Beobachteten. Es gibt Beobachter 1. Ordnung und 2. Ordnung. Der Beobachter (Beobachter 1. Ordnung) interpretiert seine Interpretationen. Der Beobachter 2. Ordnung (Meta-Beobachter) interpretiert die Interpretationen des beobachteten Organismus.
Bezeichnetes
Das Bezeichnete sind die von den Merkzeichen (Signifikanten) bezeichneten Medien oder Objekte (Signifikate). Grundlage dieser Definition der Semiotik ist die Semiose (Zeichenprozess), die als Beziehungsgefüge zwischen einem Zeichenempfänger (einem Jemand) und einem Bezeichneten (einem Etwas) definiert wird. Der Zeichenprozess besteht aus drei Gliedern: dem Zeichen (Signifikant), dem Interpretanten und dem Bezeichneten (Signifikat).
Beziehung
Beziehung beschreibt auf der vegetativen, animalischen, humanen und sozialen Ebene eine Entsprechung, in der Organismus und Umgebung sich gegenseitig definieren und gegenseitig (wie Punkt und Kontrapunkt einer Melodie bzw. wie Leistung und Gegenleistung) ergänzen (J. V. UEXKÜLL 1980).
Beziehungen verknüpfen das Erleben und Verhalten verschiedener Menschen durch kreisförmige Zeichenprozesse, in denen die Rollen von Sender und Empfänger abwechseln und in denen jeder seinen Code auf den anderen abstimmen muss: Auf diese Weise erhält das Verhalten des einen für den anderen eine Bedeutung als Zeichen, das ihn informiert, wie er sich als Antwort auf das Verhalten des anderen verhalten soll. Zeichenprozesse dieser Art finden sich auf allen Lebensstufen als integrierende Muster.
Biosemiosen
Biologische Zeichenprozesse.
Biosemiotik
Biosemiotik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die biologische Prozesse mit Hilfe der Semiotik untersucht und Leben als biologische Zeichen- und Kommunikationsprozesse versteht.
Begriff und Disziplinenkonzept entwickelten sich seit Anfang der 1970er Jahre in Deutschland, Erstbeleg des Begriffsnamens 1962[2]. Thure von Uexküll (1908–2004) suchte seinen Vater, den berühmten Theoretischen Biologen Jakob von Uexküll (1864–1944) im semiotischen Bereich zu verankern. Dessen Arbeit (insbesondere) über die Wahrnehmungsphysiologie und subjektive Wahrnehmung von Tieren standen außerhalb der üblichen Lehre, waren aber in ihrer Durchführung und der schier enzyklopädischen Materialmenge bleibend fachlich und außerfachlich anregend. Thure von Uexküll schrieb einen grundlegenden Beitrag im ersten Band der Zeitschrift für Semiotik (1979), welche die Semiotik im Deutschen Sprachraum als kohärenten Wissenschaftsbereich durchzusetzen suchte. Die Universität Hamburg unterhält in Zusammenarbeit mit dem Jakob von Uexküll Zentrum in Tartu (Estland) und dem Uexküll Enkel Carl Wolmar Jakob von Uexküll, dem Stifter des alternativen Nobelpreises, das Jakob von Uexküll-Archiv für Umweltforschung und Biosemiotik.
C
Code
Codex ist ursprünglich die "Vorschrift" oder das "Gesetz", das das Verhalten der Menschen zueinander und zu den Dingen, mit denen sie umgehen, regelt. Semiotisch wird Code synonym zu Interpretant verwendet. Der Code lässt Menschen und Dinge als konkrete Phänomene in Erscheinung treten, im Code manifestiert sich Fantasie als schöpferische Macht: Wer den Code nicht kennt, der in einer Wirklichkeit Bedeutungszuweisungen festlegt, steht ihr als Outsider beziehungslos und verwirrt gegenüber. Insider sind in der Gemeinschaft aufgehoben, Outsider sind "unbehaust" und "vogelfrei".
D
Drittheit
In der Peirceschen Kategorie der Drittheit (thirdness) setzt schlussfolgerndes Denken, Umgang mit abstrakten Zeichen und "Gedankenspiele", mit Modellen der Welt/"Repräsentionen" im Kopf voraus und beinhaltet eine Metaperspektive auf einfachere Interpretationskonstrukte und eine Evolution von Interpretationen - hin zur Peirceschen Konkruenz von Erkennbarem und Realem "in the long run".
Dualismus, psychophysischer
- Definition: Die Lehre von zwei unvereinbaren Seinsweisen (nach DESCARTES: einer "res extensa" und einer "res cogitans").
- Seine Überwindung durch den (biologischen) Konstruktivismus, nach dem die Sensorik des Organismus das Betätigungsfeld für die Motorik konstruiert und die Motorik die Brauchbarkeit (Viabilität) der Sensorik kontrolliert (J. V. UEXKÜLL: "Funktionskreis", PIAGET: "sensomotorische Zirkulärreaktion").
- Sensorik und Motorik sind wie Einatmen und Ausatmen zwei Phasen eines Lebensvorgangs, benötigen aber zur Beschreibung der durch sie erzeugten Beziehung des Organismus zu seiner Umwelt zwei verschiedene Modelle: die Sensorik das Modell des "geschlossenen" und die Motorik das Modell des "offenen Systems". H. V. FOERSTER hat dafür die Modelle der "nicht-trivialen" und der "trivialen Maschine" entwickelt.
- Aus diesem "biologischen Dualismus" sind nach C. GINZBURG (1983) im Verlauf der Menschheitsgeschichte zwei Formen von Wissenschaft hervorgegangen: die "Indizienwissenschaften" und die "GALILEI’schen Wissenschaften". Für die Indizienwissenschaften sind lebende Systeme geschlossenen Systeme ("nicht-triviale Maschinen"), für die GALILEI’schen Wissenschafdten sind sie offene Systeme ("triviale Maschine"). Beispiele für Indizienwissenschaften, für die das individuelle Moment entscheidend ist, sind die Jurisprudenz, die Geschichtswissenschaften – und die Medizin. Den GALILEI’schen Wissenschaften, der Physik und den modernen Naturwissenschaften, kommt es nicht auf das Individuelle, sondern auf das Allgemeine an. Ihre Forschungsmethoden sind die Mathematik und das Experiment, die beide die Quantifizierung und die Wiederholbarkeit der Beobachtungen erfordern – während eine individualisierende Wissenschaft die Wiederholbarkeit per Definitionem ausschließt und Quantifizierung nur als Hilfsfunktion zulässt. Die Fähigkeit, unscheinbare und scheinbar nebensächliche Dinge als "Spuren", d.h. als "Indizien" zu identifizieren, verlieh dem Menschen die Macht, aus Gegenwärtigem die Gegenwart von Nichtgegenwärtigem zu erschließen oder, wie LEIBNIZ es formulierte, "aus einem Zeichen, d.h. einem Wahrgenommenen auf die Existenz eines Nichtwahrgenommenen zu schließen". Die Methode, aus einem wahrnehmbaren Indiz auf den Inhalt eines dem Beobachter verschlossenen Systems zu schließen, würde danach der frühesten Form wissenschaftlichen Denkens entsprechen, die mit dem Auftauchen der GALILEI’schen Wissenschaften, als Umgang mit offenen Systemen, aber verloren ging. Das sichere Wissen, das das Modell der "trivialen Maschine" verspricht, löste das Bemühen um das unsichere Wissen des Modells der trivialen Maschine ab. GINZBURG beschreibt dann, wie die Methode, "in scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist", also der Umgang mit geschlossenen Systemen, erst Ende des 19. Jahrhunderts durch drei Ärzte wieder entdeckt wurde. Von ihnen war einer der italienische Arzt MORELLI, der eine Methode beschrieb, um alte Meister aus Nebensächlichkeiten seiner Bilder zu identifizieren, der andere war der Erfinder des Detektivromans CONAN DOYLE, dessen Held SHERLOCK HOLMES aus einem Zigarettenstummel die Geschichte eines Verbrechens rekonstruieren konnte. Der dritte war FREUD, für den "gering geschätzte oder nicht beachtete Züge seiner Patienten" Zeichen – Indizien – waren, aus denen er deren verdrängte Geschichten rekonstruieren konnte.
E
Emergenz
Die Entdeckung, dass in der Beziehung zwischen einem Ganzen und seinen Teilen eine Fülle theoretischer und praktischer Probleme steckt, ist ebenso wenig neu wie der Versuch, diese Probleme begrifflich zu fassen. Dafür spielt der Begriff der "Dialetik" von PLATO über ARISTOTELES, das Mittelalter bis zu KANT und schließlich zu HEGEL und MARX eine wichtige, oft genug widersprüchliche Rolle.
Der Grund, warum der Begriff "Emergenz" dem der "Dialetik" vorzuziehen ist, hat zunächst mit dieser schillernden Geschichtlichkeit und den verschiedenartigen und oft gegensätzlichen Konnotationen zu tun, die mit dem Dialektik-Begriff verknüpft sind. Der Begriff Emergenz erlaubt Definitionen, die das Gemeinte schärfer fassen und die Beziehungen zwischen Element und System (Teil und Ganzem) genauer definieren. Vor allem beschreibt er den wesentlichen Punkt: das sprunghafte (emergente) Auftreten neuer Phänomene, deren Eigenschaften sich nicht auf ihre Teilkomponenten reduzieren lassen.
Für das Verständnis dieser Zusammenhänge ist der von MEDAWAR und MEDAWAR (1977) gegebene Hinweis auf die Bedeutung der Restriktionen, denen die Möglichkeiten der Elemente im Rahmen eines Systems unterliegen, besonders fruchtbar. Sie machen darauf aufmerksam, dass die Restriktion der Aktionsmöglichkeiten, die isolierte Gebilde haben, Voraussetzung für deren Integration zu einem einheitlichen Gebilde und für das Auftreten neuer Eigenschaften ist. Damit werden zwei Phänomene verständlich:
Empathie
- dass jede Integration von Elementen zu einer Reduktion von Komplexität als Ausdruck einer neuen Ordnung auf einer höheren Stufe führt
- dass ein Versagen der Restriktionen und die Freisetzung von Aktionsmöglichkeiten, welche Elemente auf der Elementar-Ebene haben, zu einer Verletzung der höheren Ordnung führt und ein Grundvorgang jeder Pathologie ist.
Einfühlende Wahrnehmungsfähigkeit (Fantasie) des Arztes, d.h. der Arzt versucht, mit dem Patienten zusammen mitzusehen, mitzuempfinden, mitzufühlen, was der Patient sieht, empfindet und fühlt. Unter dem Aspekt der Zeichenlehre (C.S. PEIRCE) sind Sprachen Systeme symbolischer Zeichen, die ikonische und indexikalische Zeichen integrieren. Beim Sprechen schwingen daher immer ikonische und indexikalische Zeichen in wechselndem Ausmaß mit. Von diesen beschreiben die ikonischen Zeichen die Qualitäten des Erlebens (Quali-Zeichen). Empathie lässt sich so als ein Verstehen auf der ikonischen Ebene beschreiben.
Erleben
Fähigkeit eines Körpers, Einwirkungen der Umwelt nicht mechanisch zu beantworten, sondern als etwas zu interpretieren, das die Einheit mit seiner Umwelt verändert.
Erstheit
In der Peirceschen Kategorie der Erstheit (firstness) sind Reiz und Reaktion noch "biologisch fest verdrahtet", z.B. in Form von Reflexen beim Kleinkind oder Konrad Lorenz'schen Prägungen oder angeborenen Universalien, wie sie Verhaltensforscher bei vielen Naturstämmen beobachtet haben und wie wir sie als schnelle Tools/Heuristiken bei sog. "Bauchentscheidungen" anwenden (= kognitive Korrelate der Erstheit.
Ethik
Das Paradigma der Maschine und die von ihm abgeleiteten Diagnosen als Erklärungsmodelle für Krankheiten geben dem Arzt keine ethischen Orientierungshilfen. Es kennt nur eine "Ethik des Kunstfehlers".
F
Funktionskreis
Der Funktionskreis beschreibt die Konstruktion der subjektiven Umwelt durch den Organismus. Der Organismus interpretiert Veränderungen seiner Sinnesorgane als "Merkzeichen" für "Merkmale" von Gegenständen oder Vorgängen einer "Merkwelt". Der Merkwelt entspricht eine "Wirkwelt", die Organismen mit ihren Bewegungsorganen durch "Wirkzeichen" hervorbringen, die bei passender Deutung die Merkzeichen löschen und damit das Kreisgeschehen beenden.
G
Gegenleistung
Für jede Leistung ist die passende Gegenleistung notwendig. Leistung wird durch die Gegenleistung der Umgebung ergänzt. Diese bezieht und beschränkt sich nicht auf Leistungen der Willkürmotorik, d.h. der sensomotorischen Wirklichkeit, sondern umfasst und ermöglicht auch Kommunikation (Fragen erfordern Antworten).
Gesprächsanalyse
Die Gesprächsanalyse bzw. Konversationsanalyse ist eine qualitativ-empirische Methode, die datengeleitet vorgeht und hypothesengenerierend ausgerichtet ist. Sie wird unter anderem in der Linguistik, der Soziologie und der Diskurspsychologie eingesetzt. Sie eignet sich besonders für die Analyse von Datenmaterial, das nicht aufgrund theoretisch im Voraus entwickelter Hypothesen aufgezeichnet wurde, also Audio- oder Videoaufnahmen, die sehr genau verschriftlicht werden (Transkripte). Die linguistische Gesprächsanalyse kann im interdisziplinären Kontext einen Beitrag zur klärenden qualitativen Forschung leisten und zu Ergebnissen führen, die für alle beteiligten Disziplinen neu sind: zum Beispiel die linguistische Differenzialdiagnose von anfallsartigen Erkrankungen (Gülich / Schöndienst 1999, 2005, Gülich et al. 2005). Die Gesprächsanalyse geht dabei feinkörniger vor als die Inhaltsanalyse, denn sie betrachtet wie die Beteiligten in Bezug auf bestimmte Themen sprechen und interagieren. Zudem bezieht sie stets die Interaktion, also die soziale Ebene, mit ein: Im Zusammenspiel konstruieren die Beteiligten das Geschehen sichtbar gemeinsam, auch mit verbalen und nonverbalen Hörersignalen, d.h. die gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion wird anhand der sprachlichen, kommunikativen und nonverbalen Merkmale für die wissenschaftliche Analyse zugänglich.
Gesundheit
Nach der Definition der WHO ist Gesundheit vollständiges "körperliches, geistiges und soziales Wohlbebefindens".
Gesundheit ist die ungestörte Konstruktion der passenden subjektiven Umwelt, wobei die Umgebung Möglichkeiten bieten muss, die den kreativen Fähigkeiten des Lebewesens entsprechen.
grau
Ist grau eine Farbe?
Gülich
Elisabeth Gülich (* 1937) ist eine deutsche Sprachwissenschaftlerin, deren Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der Konversationsanalyse/Gesprächsanalyse, Textlinguistik und der medizinischen Kommunikation liegen. Sie lehrte als Professorin für Textlinguistik an der Freien Universität Berlin (1979-1981) und als Professorin für Romanistik und Linguistik an der Universität Bielefeld (1981-2002).
Elisabeth Gülichs Forschungsschwerpunkte im Bereich der medizinischen Kommunikation sind zum einen Struktur, Funktion und möglicherweise heilende Wirkung von Krankheitserzählungen, zum anderen medizinisch-linguistisch interdisziplinäre Projekte mit einer vor allem diagnostischen Ausrichtung. Gemeinsam mit ihren MitarbeiterInnen konnte sie eindrucksvoll nachweisen, welche diagnostische und therapeutische Bedeutung dem Gespräch zwischen Arzt und Patient zukommt. Dies ist besonders bedeutsam in einer Zeit, in der Anamnesen immer mehr durch Tests bzw. durch Nichtärzte übernommen werden.
Seit 2004 ist Elisabeth Gülich regelmäßig auf den Werkstatt- und den Jahrestagungen der AIM als Referentin vertreten: Durch genaue Analyse von Arzt-Patient-Gesprächen mit Hilfe von detaillierten Transkripten und Audio- oder Videoaufnahmen wurde in diesem Rahmen immer wieder deutlich, dass jede Äußerung bedeutungsvoll sein kann, und wie sich jede Patientenäußerung aus der Interaktion zwischen Arzt und Patient ergibt und auf diese zurückwirkt. Zudem ermöglichen gesprächsanalytische Untersuchungen einen Zugang zu bewussten und unbewussten Vorstellungen des Patienten und deren eindeutigen Nachweis am Datenmaterial. Ärzte sind es gewohnt, sehr rasch Bewertungen vorzunehmen, kaum, dass der Patient ein paar Worte gesagt hat. Von Frau Gülich lernen wir, unsere Bewertungen zurück zu nehmen und detailliert auf das Gesprochene zu achten.
H
Heteronomie
Heteronomie (= Fremdgesetzlichkeit) ist die Abhängigkeit von anderer als der eigenen Gesetzlichkeit. Der Gegensatz zu Heteronomie ist Autonomie (Eigengesetzlichkeit, s.d.).
Humanmedizin
Wieweit die Aufhebung eines Unterschieds zwischen Human- und Veterinärmedizin tatsächlich als Programm einer wissenschaftlichen Entwicklung aufgefasst wird, zeigt der folgende Passus aus der Eröffnungsrede des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin von FRANZ VOLHARD 1930: "Man kann es geradezu als Kriterium und höchste Leistung der rationellen Therapie bezeichnen, dass sie in einer Gruppe von Fällen ohne Rücksicht auf den individuellen Kranken, seine Persönlichkeit, seine seelische Verfassung, seine Konstitution mit seiner Krankheit fertig wird. ... Das bitter gemeinte Wort von DUBOIS aus der Zeit vor der Wiederentdeckung der Seele: "Zwischen Medizin und Tierheilkunde besteht nur noch ein Unterschied bezüglich der Kundschaft", trifft heute im Gegensatz zu früher tatsächlich für eine ganze Reihe von Krankheiten zu, bei denen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis Heilung sozusagen garantiert werden kann, unabhängig von der Individualität der Kranken und der Persönlichkeit des Arztes. Das Ziel der Forschung kann nur sein, die Zahl dieser rationell angreifbaren Krankheitszustände zu vergrößern."
Die Medizin hat es noch nicht zur Kenntnis genommen, dass die Hoffnung, die VOLHARD auf das Maschinenmodell setzte, nicht in Erfüllung gegangen ist. Zwar gelang es bei einigen akuten, vor allem infektiösen Krankheiten, mit diesem Modell beachtliche Erfolge zu erringen und durch den Einsatz von Geräten zum Ersatz biologischer Funktionen Leben zu verlängern. Aber die Zunahme der Krankheiten durch selbst verschuldete Schäden wie durch Alkohol und Drogen, Übergewicht, Bewegungsmangel, Straßenverkehrsunfälle machte die Erfolge bald mehr als wett, und der Einsatz lebensverlängernder Geräte bei chronisch Kranken macht das Ungenügen eines Menschenbilds, aus dem die persönlichen Faktoren und das Vorhandensein von Gefühlen ausgeklammert sind, besonders offensichtlich.
I
Indizienwissenschaft
Charakteristisch für die Indizienwissenschaft ist die Fähigkeit, in scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist.
Information
Begriff der Nachrichtentechnik (SHANNON 1948), der den Transport der für Informationsübermittlung erforderlichen technischen Bedingungen definiert. Darüber hinaus beruht dieser Begriff auf der irreführenden Vorstellung, dass Informationen Abbildungen einer vorliegenden Realität sind und passiv empfangen werden können.
Nach WIENER (1975) ist Information weder Materie noch Energie, sondern ein "Drittes": "... is not matter or energy. No materialism which does not admit this can survive at the present day."
Information leitet sich ursprünglich von lateinisch "informare" ("in Form bringen") ab.
Integration
Integration bezeichnet das Auftreten neuer, übergeordneter Funktionen auf der Basis einer Gruppe (oder mehrerer Gruppen) vorher nicht koordinierter Reaktionen oder Funktionen (WEINER 1981).
Interpretant
Nach PEIRCE ist der Interpretant eines Zeichens die Wirkung des Zeichens im Bewusstsein eines Interpreten. In biologischen Systemen entspricht der Interpretant den Sollwerten, welche die Bedürfnisse dieser Systeme symbolisieren und die Erregbarkeit der Rezeptoren steuern. Interpretanten entsprechen angeborenen oder erworbenen und im Gedächtnis gespeicherten Programmen zur Interpretation der Umgebung. Interpretanten wählen den für die aktuelle Situation gültigen Code aus oder entsprechen ihm.
Interpretation
Übersetzung in ein und derselben Sprache.
K
Kategorie
In seiner Analyse der Erkenntnis hat Charles S. Peirce ein System von Bedingungen aufzudecken versucht, unter denen jede Erkenntnis steht. In Auseinandersetzung mit den Kategorientafeln von Aristoteles und Kant hat er Erkenntnis semiotisch fundiert und in Begriffen seiner Logik der Relationen eine metaphysische und transzendentale Deduktion seiner Fundamental-Kategorien beschrieben. Peirce leitet seine drei Kategorien aus dem semiotisch verstandenen Urphänomen der Erkenntnis ab und betont, dass, was immer von uns thematisiert wird "als qualitatives Sosein bei Gelegenheit einer faktischen Begegnung von Ich und Nicht-Ich erfahren und in einer intersubjektiv gültigen Aussage symbolisch repräsentiert werden muss" (1a). Zur Charakterisierung der Erkenntnis als Zeichenprozess dienen ihm die Begriffe Qualität, Relation und Repräsentation (s. semiotische Erkenntnistheorie) (1b).
Nach der späteren relationslogischen Deduktion der Kategorien und Ableitung der Zeichentheorie aus den Prinzipien der Phänomenologie (2-4) beschreiben die Kategorien die allgemeinste Struktur der Realität. Die Kategorien konstituieren nicht die Realität, sondern machen sie zugänglich und ermöglichen ihre Erschließung (5). Peirce zufolge gehören "die universalen Kategorien ... zu jedem Phänomen, wobei vielleicht die eine in einem Aspekt des Phänomens vorherrschender ist als eine andere, aber sie gehören alle zu jedem Phänomen" (5).
Die Kategorie der Erstheit "ist die Form der Gegenwärtigkeit (presentness), in der Seiendes dann begegnet, wenn Unterscheidungen, Relationen und Zeitbestimmungen abwesend sind" (5). Ein Beispiel sind Empfindungsqualitäten. Die Kategorie der Zweitheit "ist die Form des Kampfes (struggle), der Auseinandersetzung mit der Welt" (5). Die Kategorie der Drittheit beinhaltet Vermittlung qua Interpretation und symbolischer Repräsentation.
Peirce zufolge haben die drei Universalkategorien einen doppelten Status. Einerseits sind sie Elemente des Geistes, von höchster Allgemeinheit, sind Mittel, mit denen sich Phänomene erschließen und ordnen lassen und sind Handlungsanweisungen an sacherschließendes Denken. Andererseits sind die Kategorien keine arbiträren, rein operative Setzungen, sie müssen sich in der begrifflichen Rekonstruktion der Wirklichkeit pragmatisch bewähren (s. Pragmatismus).
Konstruktivismus
Die Vorstellung einer Übereinstimmung unserer Konzepte mit der Wirklichkeit muss durch die Vorstellung des "Passens" unserer Wirklichkeitskonstruktionen zu einer unerkennbaren Realität ersetzt werden, d.h. wir können diese Welt nur insoweit "erkennen", als wir sie in Form von praktikablen Modellen selbst konstruieren.
Aus konstruktivistischer Sicht findet Kommunikation in einem Prozess der Interaktion zwischen autonom operierenden kognitiven Systemen statt, die lediglich durch "strukturelle Koppelung" verbunden sind. Jedes der kommunizierenden Systeme ist in sich geschlossen, selbstreferenziell, autopoietisch, denn die Bedeutungen kommen nicht von außen, sondern werden im Inneren des erkennenden Subjekts von diesem selbst konstruiert, und dort sind alle Bedingungen und Möglichkeiten aller Zeichen- bzw Codebildungen sowie deren Anwendungen in entsprechenden semiotischen Interaktionen bereits angelegt (NÖTH 2000).
Krankheit
Krankheit tritt ein, wenn das Gleichgewicht (= Passung) zwischen subjektiver Kreativität und objektivem Angebot bzw. zwischen Leistung und Gegenleistung gestört ist.
L
Leistung
Leistung und Gegenleistung sind in jedem Handlungssystem komplementär. Leistung kann nicht ohne Gegenleistung verwirklicht werden. Leistungen brauchen Gegenleistungen, um Leistung zu sein und umgekehrt.
Lown, Bernard
Bernard Lown ist einer der renommiertesten und streitbarsten Ärzte unserer Zeit und Ehrenmitglied der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin. Er ist weltweit bekannt für sein Engagement im US-amerikanischen Gesundheitswesen, in der IPPNW, gegen die weltweite atomare Bedrohung und gegen den Irak-Krieg. In seinem Buch "Die verlorene Kunst des Heilens", dessen deutsche Ausgabe zunächst beim Schattauer Verlag erschienen ist und inzwischen im Suhrkamp Verlag als Taschenbuch vorliegt, schildert Lown ohne moralisierenden Zeigefinger sein ärztliches Wirken, seine Erfahrungen, seine Erfolge, aber auch seine Fehler. Ein Buch, das anregt und Mut macht. Bernard Lown , einer der renommiertesten Ärzte unserer Zeit, propagiert ein neues und zugleich altes, urärztliches Paradigma: eine Medizin mit menschlichem Gesicht, in der das Verhältnis von Patient und Arzt ebenso wichtig ist wie das Beherrschen moderner medizinischer Technik. Eine solche Kunst des Heilens kann oft mehr erreichen als alle Wunder der modernen Medizintechnologie.
Bernard Lown, der das " Lown Cardiovascular Center " an der Harvard Medical School in Boston gegründet hat, ist Kardiologe von Weltrang. Er entwickelte die geltende Klassifikation der Herzrhythmusstörungen und er erfand die Elektrodefibrillation bei Kammer- und Vorhofflimmern, die vielen tausend Menschen das Leben gerettet hat.
Allerdings erhielt Bernard Lown aber nicht etwa den Nobelpreis für Medizin, den er zweifellos verdient hätte, sondern nahm gemeinsam mit seinem russischen Kollegen Evgenji Chazov 1985 den Friedensnobelpreis für die von ihm gegründete Vereinigung "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" (IPPNW) entgegen.
M
Maschine
Jede Maschine besteht nach V. FOERSTER (1992) aus drei Bauelementen: einem Input, einem Output und einem Operator als Vorrichtung, die den Input in den Output verwandelt. Diese drei Bauelemente entsprechen den drei Schritten des Syntagmas "Handlung, die zu einem Erkenntnisgewinn führt": Der Input entspricht der Wahrnehmung, der Operator entspricht der Deutung des Wahrgenommenen und der Output dem realitätsprüfenden Verhalten.
Maschine, nicht-triviale
Das Modell der nicht-trivialen Maschine deutet das Verhalten eines Lebewesens als Antworten auf Zeichen, die von seinem inneren Zustand interpretiert werden, d.h. als Wirkungen semiotischer Ursachen. Der "innere Zustand" der nicht-trivialen Maschine ändert sich mit jedem Arbeitsgang, weil der Operator an ihn gekoppelt ist. Die nicht-triviale Maschine ist von ihrer Vergangenheit abhängig, d.h. sie lernt aus Erfahrung. Auf den gleichen Input folgt nicht der gleiche Output. Die nicht-triviale Maschine ändert sich mit jedem Arbeitsgang.
Maschine, triviale
Das Modell der trivialen Maschine deutet das Verhalten von Lebewesen als mechanischen Prozess, d.h. als Wirkungen mechanischer Ursachen. Es entspricht dem Maschinenmodell für den Körper. Der Operator arbeitet hier nach der Regel der mechanischen Kausalität: Er verwandelt fehlerfrei und zuverlässig mechanische Ursachen in mechanische Wirkungen. Die triviale Maschine arbeitet unabhängig von ihrer Vergangenheit, d.h. sie lernt nicht aus Erfahrung: Auf die gleiche Ursache (Input) folgt immer wieder die gleiche Wirkung (Output).
Merkmal
Aus semiotischer Sicht ist ein Merkmal ein Zeichen. Nach J. V. UEXKÜLL (1980) ist ein Merkmal ein hinausverlegtes Merkzeichen bzw. die verhaltensauslösende Eigenschaft des Objekts (z.B. Signalreiz, Schlüsselreiz, Auslöser): "Setzt man anstelle von Empfindung oder subjektiver Qualität das Merkzeichen, so kann man sagen, die Merkzeichen unserer Aufmerksamkeit werden zu Merkmalen der Welt" (J. V. UEXKÜLL 1973). Im Funktionskreis prägt das Lebewesen (Subjekt) durch das "Merken" seiner Umgebung (Objekt) ein Merkmal auf, das ein Verhalten, ein "Wirken" in Gang setzt, das der Umgebung ein "Wirkmal" aufprägt.
Merkzeichen
Ein Merkzeichen ist nach J. V. UEXKÜLL (1980) ein Ordnungs- und Inhaltszeichen, dem eine Empfindungsqualität entspricht.
Meta-Beobachter
Der Meta-Beobachter oder Beobachter 2. Ordnung kann nur die Beobachtungen des Beobachters 1. Ordnung interpretieren.
Mikroszenenprotokoll
Das Mikroszenenprotokoll ist ein Instrument zur Erfassung des Geschehens in einer Hausarztpraxis und dient zunächst der Selbst- und Arbeitsreflexion. Die einzelnen Arzt-Patient-Begegnungen, Momente, in denen Passungsstörungen hergestellt, erfahren und überwunden werden, werden als Einheiten hausärztlichen Handelns, als Mikroszenen bezeichnet.
Im Mikroszenenprotokoll werden die einzelnen Begegnungen innerhalb eines Praxistages chronologisch erfasst und über bestimmte Kategorien charakterisiert und der Reflexion zugänglich gemacht. Das Mikroszenenprotokoll befasst sich zunächst ausschließlich mit der Arztperspektive und ist als Instrument der Arbeitsreflexion gedacht.
Die Erstellung eines Mikroszenenprotokolls erfordert vom Arzt den ständigen Wechsel der Wahrnehmungsebene zwischen im System erkennen und handeln einerseits und das System beobachten andererseits. Anwendungsmöglichkeiten des Mikroszenenprotokolls: Selbst- und Arbeitsreflexion, Intervision, Qualitätszirkel, Forschung. Erweiterungen durch Videodokumentation und die Einführung Patientenperspektive sind möglich.
Das Mikroszenenprotokoll ist als Arbeitsinstrument in der Forschung denkbar. Je nach Forschungsfrage wären neu zu erfassende Kategorien in das Protokoll einzuführen.
Literatur: Gisela Volck, Vera Kalitzkus, Passung im Minutentakt – die Komplexität einer Hausarztpraxis, Mikroszenenprotokoll als Instrument der Selbstreflexion, ZFA Zeitschrift für Allgemeinmedizin 3/2012 S.105-111
N
Narrativ
"Der Ausdruck "narrativ" bezeichnet ein Textschema, das in allen Kulturen für die Ordnung von Erfahrung und Wissen grundlegend ist. Im Darstellungsschema ... wird ein Zusammenhang von Geschehen und Handlung in eine nach Relevanzgesichtspunkten geordnete und unter einer temporalen Anschauungsform stehende Geschichte überführt. ... Jede Geschichte steht unter dem Prinzip ihrer relativen Abgeschlossenheit" (RITTER et al. 1984).
"Geschichten sind dann unerlässlich, wenn erklärungsbedürftige Tatbestände nicht durch eine Theorie (kausaler, funktionaler, statistischer oder rationaler Art) erklärt werden können. Man unterscheidet unter diesem Gesichtspunkt daher zwischen "narrativen und theoretischen" Texten. "Geschichten sind das, was erzählt werden muss, um zu wissen, wer einer ist." In diesem Sinn soll der erklärungsbedürftige Sachverhalt unseres Verhaltens narrativ, d.h. durch eine Geschichte erklärt werden" (RITTER et al. 1974).
Für C. GINZBURG (1983) ist die Methode, wahrnehmbare Zeichen als "Indizien" für etwas den Sinnen nicht Verfügbares zu verwenden, das älteste Paradigma, das der menschliche Geist erfunden hat. Er datiert ihre Entstehung in die Zeit der Jägerkulturen. Daraus definiert er das Erkenntnisvermögen: "Charakteristisch für dieses Wissen ist die Fähigkeit, aus scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist. Man kann hinzufügen: Der Beobachter organisiert die Dinge so, dass Anlass für eine erzählende Sequenz entsteht, deren einfachste Formel lauten könnte: "Jemand ist dort vorbeigekommen." ... Der Jäger hätte demnach als Erster eine Geschichte erzählt, weil er als Einziger fähig war, in den stummen – wenn nicht unsichtbaren – Spuren der Beute eine zusammenhängende Folge von Ereignissen zu lesen."
Naturalistische, nicht reduktive Theorie des Geistes
Ein zentrales Anliegen von Charles S. Peirce war es, das Geistige in der Natur zu verankern und eine naturalistische, nicht-reduktive Theorie des Geistes zu ermöglichen (1). Auch über 100 Jahre nach Peirce haben naturalistische, nicht-reduktive Vorstellungen zur evolutionsbiologischen Entwicklungsgeschichte des Denkens einen schweren Stand gegenüber Zeitgeist und reduktionistischen Theorien.
Interpretiert man - wie von Peirce angedacht (2) - Erkenntnisse von Biologen wie Konrad Lorenz, Verhaltensforschern wie Eibl-Eibesfeld, Primatenforschern wie F. de Wals oder M. Tomasello und Philosophen wie E. Thompson und T. Deacon (3-5) in Peircescher Perspektive, dann lassen sich Phylogenese und Ontogenese des menschlichen Geistes als Stufen der Reaktionen auf/Auseinandersetzungen mit der Umwelt verstehen.
In der Peirceschen Kategorie der Erstheit (firstness) sind Reiz und Reaktion noch "biologisch fest verdrahtet", z.B. in Form von Reflexen beim Kleinkind oder Konrad Lorenz'schen Prägungen oder angeborenen Universalien, wie sie Verhaltensforscher bei vielen Naturstämmen beobachtet haben und wie wir sie als schnelle Tools/Heuristiken bei sog. "Bauchentscheidungen" anwenden (= kognitive Korrelate der Erstheit (2)). Bei der Kategorie der Zweitheit (secondness) kommt Lernen dazu, ausgetretene Pfade der Erfahrung machen die neuronalen Verknüpfungen komplexer und differenzierter. Lernen, was Zeichen bedeuten, setzt eine gemeinsame Praxis, gemeinsame Intentionen und gemeinsames Handeln voraus und ist nur in der Kultur möglich. Auch ein Kleinkind muss die Zeichen erst lernen, bevor es sie sinnvoll einsetzten und in der Kommunikation mit andern teilen kann. Die Kategorie der Drittheit (thirdness) setzt schlussfolgerndes Denken, Umgang mit abstrakten Zeichen und "Gedankenspiele", mit Modellen der Welt/"Repräsentionen" im Kopf voraus und beinhaltet eine Metaperspektive auf einfachere Interpretationskonstrukte (6) und eine Evolution von Interpretationen - hin zur Peirceschen Konkruenz von Erkennbarem und Realem "in the long run". In evolutionsbiologischer Perspektive nehmen dabei die Kausalität ab und die Freiheitsgrade zu.
O
Objekt
In der traditionellen Bedeutung der Philosophie ist das Objekt das Korrelativ des wahrnehmenden und wissenden Subjekts: Es bietet sich mit unveränderlichen und beständigen Eigenschaften an, objektiv erkennbar an der Universalität der Subjekte, unabhängig von Wünschen und Meinungen der Individuen (LAPLANCHE et al. 1972).
Aus semiotischer Sicht ist das Objekt (oder das Bezeichnete, das Signifikat) das Korrelat der Erfahrung. Seine Kenntnis ist Voraussetzung für das Verstehen eines Zeichens (NÖTH 1985).
Eine Biologie der Subjekte geht von Einheiten aus, in denen sich Subjekt und Objekt gegenseitig (kontrapunktisch) bestimmen, so z.B. im Tierreich als Jäger (Subjekt) und Beute (Objekt) oder als Nahrungssuchender (Subjekt) und Nahrung (Objekt), d.h. in immer wechselnden, aber einander immer ergänzenden Rollen.
P
Paradigma
Anzahl von sprachlichen Einheiten, zwischen denen in einem gegebenen Kontext zu wählen ist. Ein Paradigma begründet oder verändert ein Fachgebiet. Ein Paradigma ist – sprachwissenschaftlich – ein auswechselbares Element in einem Syntagma. Syntagma bezeichnet die Beziehung zwischen den Teilen eines Satzes, der eine Aussage macht. Man muss daher zwischen dem Wechsel einer Aussage (z.B. über die Regeln des Wissenserwerbs) und dem Wechsel eines Elements innerhalb einer solchen Aussage unterscheiden. Im ersten Fall handelt es sich um einen Syntagmawechsel, im zweiten Fall um einen Paradigmawechsel. Das hat zur Folge, dass auch zwischen einem Paradigmawechsel innerhalb des gleichen Syntagmas und einem Paradigmawechsel als Folge eines Syntagmawechsels unterschieden werden muss.
Die Entdeckung des Beobachterproblems in der Physik hat nicht nur zu einem Paradigmawechsel in der Quantenphysik, sondern darüber hinaus zu einem Syntagmawechsel geführt, der die Fesseln sprengt, die unsere Vorstellungen von Wissenschaft und Medizin seit dem 17. Jahrhundert in einer restriktiven Weltanschauung gefangen hielten. Es wurde notwendig, den Prozess des Wissenserwerbs und damit Wissen und Wissenschaft neu zu definieren.
Dieser Syntagmawechsel, der zu einer Neubewertung von Wissenschaft führt, zwingt die einzelnen Wissenschaften zu einem Paradigmawechsel innerhalb ihres Wissensgebiets. Das gilt in besonderem Maße für Biologie und Medizin.
Passung
Der Organismus konstruiert aus einer neutralen Umgebung die zu seinen Bedürfnissen und Verhaltensmöglichkeiten passende Umwelt ("Gesundheit").
Passungsverlust
Durch Veränderungen des Organismus und der Umgebung geht die Passung verloren ("Krankheit") mit der Folge einer Verarmung an Zeichendifferenzierung und fehlender Integration ikonischer, indexikalischer oder symbolischer Zeichen.
Peirce
Charles Sanders Peirce war ein ungewöhnlich origineller, vielseitig interessierter Logiker, Wissenschaftstheoretiker und Philosoph. Zusammen mit William James (1842-1910) gilt er als Begründer des Pragmatismus. Peirce hat seine Gedanken und Konzepte in zahlreichen Publikationen/Manuskripten niedergeschrieben, die Arbeiten seiner frühen Schaffensperiode später überarbeitet und in einer stärker wissenschaftstheoretischen und evolutionsgeschicht-lichen Perspektive dargestellt. Eine systematische Einheit seiner Gedanken, ein zusammenfassendes philosophisches Buch hat er jedoch nie verfasst.
Peirce gilt deshalb als ungewöhnlich origineller Denker, weil er viele Gedanken anderer Philosophen vorweggenommen hat. So hat er mit seiner - unabhängig von Gottlob Frege (1848-1925) entwickelten - Logik der Relationen zu B. Russel (1872-1970) und A.N. Whiteheads (1861-1947) epochalen "Principia mathematica" (1910-1913) beigetragen. Etwa zeitgleich, jedoch unabhängig von Edmund Husserl (1859-1938) hat er mit seiner Phänomenologie, die er später Phaneroskopie genannt hat, eine phänomenologische Betrachtungsweise den Naturwissenschaften gegenüber- bzw. vorangestellt. In seiner Wissenschaftskritik hat er spätere Gedanken von Hans Reichenbach (1891-1953), Karl Popper (1902-1994), Stephan Toulmin (1922-2009), Paul Feyerabend (1924-1994) und Thomas Kuhn (1922-1996) vorweggenommen (1).
Peirce hat die Semiotik, die Lehre von den Zeichen und Zeichenprozessen, begründet und darauf aufbauend eine semiotische Erkenntnistheorie entwickelt. Peirce war ein profunder Kenner der europäischen Philosophie. Den mittelalterlichen Universalienstreit hat er semiotisch gedeutet, indem er die Existenz, nicht aber die Realität der Universalien leugnet. Aktuelle Existenz kommt Peirce zufolge nur den hier und jetzt indizierbaren individuellen Dingen zu, während die Geltung der Universalien an mögliche Zeichenrepräsentationen der Welt in einer kommunizierenden Gemeinschaft denkender Wesen gebunden ist (2a). In Auseinandersetzung mit der englischen und deutschen Philosophie, insbesondere mit Lockes Empirismus, Humes Skeptizismus und Kants Transzendentalphilosophie, hat er eigenständige Positionen entwickelt, wurde Begründer der amerikanischen Philosophie und hat nachfolgende amerikanische Philosophen wie z.B. John Dewey (1859-1952), Willard van Orman Quine (1908-2000), Hillary Putnam (*1926) u.a.m. maßgeblich beeinflusst (1). Inspiriert von Charles Darwin (1809-1882) Evolutionstheorie und anknüpfend an Schellings Naturphilosophie hat Peirce eine evolutionäre Kosmologie und kosmologische Metaphysik entwickelt (3) und Whiteheads (1861-1947) Prozessphilosophie und religionstheoretische Gedanken Pierre Teilhard de Chardins (1881-1955) vorweggenommen. Ein zentrales Anliegen Peirce war es, das Geistige in der Natur und teleologisches Denken in den Naturwissenschaften zu verankern und eine naturalistische, nicht-reduktive Theorie des Geistes zu entwickeln (1). Peirce Konzeption der Metaphysik als kosmologische Makro-Empirie (2b) macht Stellung und Bedeutung der Metaphysik in seiner Klassifikation der Wissenschaften (4,5) verständlich.
Pertubation
Einwirkungen aus der Umgebung, die die "Wohnhülle" als Medium des "Selbstgesprächs"verändern und auf Grund der Bedürfnislage des Körpers als Zeichen für Vorgänge interpretiert werden, die ein Verhalten auslösen.
Phaneroskopie
s. Phänomenologie
Phänomenologie
Etwa zeitgleich, jedoch unabhängig von Edmund Husserl (1859-1938) hat Charles S. Peirce mit seiner Phänomenologie, die er später Phaneroskopie genannt hat, eine phänomenologische Betrachtungsweise den Naturwissenschaften gegenüber- bzw. vorangestellt. Phänomenologisches Philosophieren geht von der Überzeugung aus, "dass es unabhängig von und vor allen Resultaten der Naturwissenschaft eine unabhängige Theorie der Erfahrung gibt." (1). Naturalismus und analytische Philosophie gehen dagegen von der These aus, "dass die Theorien der Naturwissenschaften auch für die Philosophie den unhintergehbaren Ausgangspunkt aller Theoriebildung liefern." (1).
Peirce vertritt eine Unabhängigkeit und größere Gewissheit unseres vorwissenschaftlichen und lebensweltlich-alltäglich Wissens gegenüber dem durch Philosophie und Wissenschaft erst geschaffenem Wissen und nimmt Gedanken des methodischen Kulturalismus (2,3) vorweg. In seiner Wissenschaftsklassifikation von 1904 unterscheidet Peirce forschende, überprüfende und praktische Wissenschaften (4). Die forschende Wissenschaft wird in Mathematik und Philosophie unterteilt, letztere weiter in Phänomenologie, normative Wissenschaft (Ästetik, Ethik, Logik) und Metaphysik. Die Phänomenologie ist nach Peirce die erste und grundlegende philosophische Disziplin (1). Um ein Phänomen genau zu betrachten sind drei Fähigkeiten erforderlich: Erstens ein feinfühliges Wahrnehmungsvermögen (wie das eines Künstlers). Zweitens "ein entschlossenes Unterscheidungsvermögen". Und drittens "das generalisierende Vermögen eines Mathematikers, der die abstrakte Formel aufstellt" (5). Aufgabe der Phänomenologie ist es, einen Katalog ausreichender Kategorien der Erkenntnis und ihre Beziehung zu anderen Kategorien aufzuzeigen.
Pragmatismus
Nach dieser von Charles Sanders Peirce (1839-1914) und William James (1842-1910) vertretenen Lehre "sind alle unsere Begriffe, Urteile und Überzeugungen nur Regeln für unser Handeln (Pragma), die soviel sogenannte 'Wahrheit' besitzen, als sie Nutzen für unser Leben haben (1a)". Nach Peirce liegt der allein zureichende Grund jeder wichtigen Unterscheidung des Denkens in dem, was sich als praktisch relevant erweist. Mit seiner pragmatischen Maxime forderte Peirce dazu auf, zu überlegen, "welche Wirkungen, die denkbarerweise praktischen Bezüge haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffes in Gedanken zukommen lassen" (2). Peirce behauptet, dass "die ganze Funktion des Denkens die ist, Gewohnheiten des Handelns zu erzeugen" (2).
Während W. James und später F.C.S. Schiller den Pragmatismus "zu einer subjektivistisch-humanistischen Philosophie oder 'Weltanschauung' verallgemeinerten, suchte Peirce ihn im Sinne einer wissenschaftslogischen Maxime zu begrenzen" (1b) und intendierte, dass man Denken und Handeln vor allem an ihren Auswirkungen, ihren "Früchten" erkennen soll.
Propriozeption
Im engeren Sinn bedeutet Propriozeption "Eigenempfindung" (proprium: das Eigene, capere: nehmen) des Körpers oder eines Organs, wobei Mechanorezeptoren ("Propriorezeptoren"), die als sensible Endorgane auf Zustand und Zustandsänderungen des Bewegungsapparats reagieren, die "Eigenempfindung" vermitteln. So nimmt sich z.B. der Muskel mit seiner Kontraktion als Antwort auf sein Gedehntwerden "selbst in Besitz" oder "zu Eigen".
Im weiteren Sinne (PIAGET 1973: "sensomotorische Zirkulärreaktion") ist Sensorik ein "Selbstgespräch", in dem der Körper sich mit seiner motorischen Reaktion "in Besitz nimmt". Aus semiotischer Sicht ist ein Zeichen dann propriozeptiv, wenn es vom eigenen Körper ausgeht, z.B. Schmerzempfindungen sind Zeichen, die einen Ort im eigenen Körper als den Ort einer Verletzung anzeigen (NÖTH 2000).
Aus konstruktivistischer Sicht wird Propriozeption dadurch charakterisiert, dass der Organismus durch seine motorische Aktivität seine unmittelbare Umgebung verändert: Damit konstruiert er aus der Umgebung eine zu ihm passende "Wohnhülle", die ihn als schützendes Medium umgibt. Auf diese Weise führt er ständig das "Gespräch" mit sich selbst, in dem er "sich zu Eigen nimmt".
Der Verlust der "Eigenempfindung" ist ein "Gefühl der Auslöschung oder Zerstörung des Seins" (OLIVER SACKS 1989).
R
Realitätsprinzip, kommunikatives
Nach Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit mit gemeinsamen Interpretanten gelingt es Interaktionspartnern, gemeinsame Handlungen erfolgreich durchzuführen.
Realitätsprinzip, pragmatisches
Das pragmatische Realitätsprinzip ist dafür verantwortlich, dass die Interpretation der Objekte und Vorgänge der subjektiven Umwelt zu den Effekten der die Umwelt verändernden Handlungen passt.
Reflektierte Kasuistik
Die Methode "Reflektierte Kasuistik" ist eine Anleitung zu kollegialer, berufsübergreifender Fallbesprechung. Sie initiiert einen strukturierten Gruppenprozess, dessen Konzeption sich auf grundlegende theoretische Überlegungen zur Humanmedizin bezieht. Es werden semiotische Kategorien, Denkansätze aus dem Konstruktivismus und der Systemtheorie in praktische Schritte übersetzt.
Reiz
Im engeren Sinn ist ein Reiz die physikalische oder chemische Ursache für Reaktionen des Organismus. Aus konstruktivistischer und semiotischer Sicht sind Reize Störungen ("Perturbationen") der "Selbstgespräche", die der Körper führt. Diese Störungen dienen als Zeichen, die auf Umweltvorgänge hinweisen, die für den Körper positive oder negative Bedeutungen haben.
S
Selbst
Die Eigenschaft "Selbst" grenzt ein System nach "außen" gegen "Nicht-Selbst" ab und hilft damit eine "Umwelt" aufzubauen. Nach "innen" beschreibt die Eigenschaft "Selbst" ein "milieu interieur", das für die Subsysteme die "Umgebung" bereitstellt, aus der sie ihre zu ihnen passenden Umwelten bzw. "Wohnhüllen" aufbauen.
Theoretisch ist "Selbst" eine Eigenschaft eines biologischen oder sozialen Systems. Bei sozialen Systemen entsteht diese Eigenschaft emergent mit dem Zusammenschluss von Systemen als Subsysteme zu einem Suprasystem. Soziale Systeme entstehen "zentripetal", d.h. durch den Zusammenschluss von Subsystemen. Biologische Systeme entstehen "zentrifugal", d.h. durch Differenzierung eines Systems in Subsysteme.
Psychologisch ist "Selbst" ein "Bedürfnis", die zu den Leistungen unseres Organismus oder sozialen Systems passende Umwelt bzw. die "individuelle Wirklichkeit" zu konstruieren.
Semiotik
Wissenschaft von den Zeichen ("Zeichenlehre") bzw. Theorie der nichtsprachlichen Zeichensysteme. Ein Zeichenprozess ist ein dreigliedriger (triadischer) Vorgang, der die Verbindung zwischen dem Zeichen und einer bezeichneten Sache herstellt, d.h. aus drei Komponenten besteht: Zeichen, Interpretant und repräsentiertes Objekt.
Alle Wissenschaften sind nach Peirce auf Semiotik gegründet, insbesondere die Philosophie. Die Allgemeinheit der Semiotik ist ihr formaler Zugang zu allen Gegenstandsbereichen. Die Semiotik kann als Logik allen menschlichen Erkennens begründet werden (1,2) (semiotische Erkenntnistheorie).
Semiotische Erkenntnistheorie
Ausgehend von den Prämissen "alles Denken geschieht in Zeichen" und "jeder Gedanke ist ein Zeichen" hat Peirce seine Lehre von den Zeichen und seine Idee des hypothetischen Schlusses auf die traditionelle Erkenntnistheorie angewendet und eine semiotische Erkenntnistheorie ausgearbeitet (1). Peirce leitet seine drei Kategorien aus dem semiotisch verstandenen Urphänomen der Erkenntnis ab und betont, dass, was immer von uns thematisiert wird "als qualitatives Sosein bei Gelegenheit einer faktischen Begegnung von Ich und Nicht-Ich erfahren und in einer intersubjektiv gültigen Aussage symbolisch repräsentiert werden muss" (2a). Zur Charakterisierung der Erfahrung und Erkenntnis als Zeichenfunktion verwendet er die Begriffe Qualität (Ausdruck des "Soseins" der Dinge durch ikonische Ähnlichkeit der "feelings"), Relation (oder reale Konfrontation des Subjekts mit den existierenden Objekten oder "brute facts" via Indices) und Repräsentation (der realen Tatsachen und des qualitativ-ikonischen Ausdrucks des Soseins der Dinge in einer Hypothese, d.h. in einem abduktiven Schluss (2b). Erkenntnis ist für Peirce weder Affiziertwerden durch Dinge-an-sich, noch Intuition gegebener (Sinnes-)Daten, sondern "Vermittlung" (mediation) einer konsistenten Meinung über das Reale, d.h. Repräsentation der äußeren Tatsachen (2b).
Signifikant
Synonym: Bezeichnetes, Objekt, Referent
Signifikanz
Siehe Bedeutung.
Situationskreis
In der Vorstellung wird die Situation (die dem Merkmal im Funktionskreis entspricht) experimentell vorstrukturiert: Die Bedeutungserteilung erfolgt zunächst als hypothetische Bedeutungsunterstellung, deren Konsequenzen in der Fantasie durch Probehandeln durchgespielt werden.
Solipsismus
Die Lehre, dass es keine Welt und keinen Menschen außer der Welt des Konstrukteurs und diesem selbst gibt. Geschlossene Systeme wie Einheiten des Überlebens aus Organismus und Umwelt, die nach Vollendung streben, verstehen nur ihre eigenen Zeichen und werden nur aufgrund ihrer eigenen Motive aktiv, gewissermaßen als "Solipsisten".
Struktur
In den westlichen Kulturen hat sich das räumliche Orientierungsschema für manuelle Eingriffe in den Körper eines Kranken seit 150 Jahren zu der wissenschaftlichen Theorie der Kausalzusammenhänge von Strukturen und Prozessen in einem hochkomplexen Mechanismus verselbstständigt: Dieser Aspekt lässt uns besser verstehen, wie es möglich war, den Grundsatz der räumlichen Orientierung für manuelle Eingriffe der menschlichen Hand im Verlauf der stürmischen Entwicklung zu dem hochkomplexen Theoriengebäude der modernen Medizin konsequent durchzuhalten.
Die zunehmende Verfeinerung der Möglichkeiten für direkte Eingriffe der menschlichen Hand durch technische Apparaturen und für indirekte Eingriffe durch Pharmaka erzwang eine fortschreitende Differenzierung des Körpermodells, das umgekehrt wieder die Verfeinerung der Technik für Eingriffe vorantrieb. So entstand das imponierend Gebäude der modernen Medizin, das den menschlichen Körper nach dem Paradigma einer hochkomplexen physikalisch-chemischen Maschine interpretiert.
Krankheit ist danach eine räumlich lokalisierbare Störung in einem technischen Betrieb, der zwar eine sehr komplizierte, aber mithilfe des technischen Vorbilds doch überschaubare Struktur besitzt. Von diesem allgemeinen Paradigma lassen sich Diagnosen für konkrete Krankheiten als spezielle Spielregeln für den Umgang mit Kurzschlüssen, Rohrbrüchen, Transportproblemen oder ähnlichen technischen Fragen ableiten.
Wie ein Techniker auf der Basis eines Schaltplans den Betriebsschaden eines Autos, eines Fernsehers oder Computers lokalisieren und danach die Reparatur planen kann, so kann der Arzt eine Krankheit, die als Betriebsschaden im menschlichen Körper – als Klappenfehler im Herzen, als Geschwür im Magen oder als Enzymdefekt in einem Gewebe oder Transportsystem – interpretiert ist, durch entsprechende technische Eingriffe reparieren (TH. V. UEXKÜLL 1986).
Syntagma
Siehe Paradigma
System
System ist die Einheit mannigfaltiger Erkenntnisse unter einer Idee (KANT). Die Idee: "Systemisch" betrachtet die Gegenstände und Vorgänge, die unter ihr zusammengestellt sind, als Teile eines Ganzen, die aufeinander bezogen sind.
"Der Begriff 'System' steht für eine Abstraktion. Er kann letztlich jeder Menge von Relationen zugeschrieben werden. Der Beobachter entscheidet, was er als System betrachten und wo er dessen Grenzen sehen will. Wird über System gesprochen, so ist immer diese vom Beobachter vorgenommene Definition vorausgesetzt" (SIMON 1993).
System, lebendes
Einheit aus Organismus und der von ihm konstruierten Umwelt (J .V. UEXKÜLL 1973; "Einheit des Überlebens" nach BATESON 1985).
Systeme, geschlossene
Physikalisch sind geschlossene Systeme Gebilde ohne Stoffwechsel, z.B. Kristalle.
Alle Bestandteile bleiben die gleichen (BERTALANFFY 1968). Lebende Systeme sind für den Beobachter geschlossene Systeme. Der Aspekt, der dem Beobachten oder Erleben dieses Lebewesens entspricht, bildet die Basis für "teilnehmende Beobachtung".
Nach MATURANA (1982) sind lebende Systeme schon aufgrund ihrer "Autopoiese" geschlossene Systeme.
Systeme, offene
"Offene Systeme tauschen Energie und Materie mit ihrer Umwelt aus. Es gibt verschiedene Komplexitätsgrade in offenen Systemen. Flammen und Flüsse sind beispielsweise sehr einfache physikalisch-chemische Systeme, die sich in einem konstanten Ein- und Ausgang von Atomen aufrechterhalten. In biologischen Organismen wird die selbstbestimmte (autopoietische) Aufrechterhaltung des eigenen Systems bei konstantem Austausch mit der Umwelt zu einer dominanten Eigenschaft. ... Offene Systeme können nicht nur zur Selbststabilisierung, sondern auch zur Selbstorganisation befähigen" (NÖTH 2000).
Nach BERTALANFFY (1968) sind "offene Systeme" als "Fließgleichgewicht" "Modelle für Leben". Das Modell "offenes System" bringt das beobachtete Lebewesen oder Organ in die Form eines Gebildes für die technische Aufgabe, Veränderungen der anatomischen Gestalt und/oder der Zusammensetzung seiner Bestandteile vorzunehmen. Unter diesem biotechnischen Aspekt können alle fundamentalen Eigenschaften lebender Systeme wie Metabolismus, Entwicklung, Selbstregulation, Antwort auf Reize oder spontane Aktivität als Fließgleichgewicht-Eigenschaften offener Systeme verstanden werden.
Systemebene
Fähigkeit lebender Systeme, eine Umwelt als eigene (subjektive) Lebenssphäre aufzubauen, in der ein "Sich-Erleben" möglich wird, bestimmt die Ebene, auf der Systeme als Subsysteme eines Suprasystems definiert werden.
Systemtheorie
Die Systemtheorie beschreibt die dynamischen Beziehungen, die zwischen den an einer Handlung beteiligten Phänomenen bestehen. Isolierte Vorgänge sind – als be-teiligte Glieder eines übergreifenden Zusammenhangs – Teile eines übergeordneten Systems.
Systeme sind keine statischen Gebilde, sondern Erzeugnisse eines Beobachters, die sich mit seiner Blickrichtung ändern.
T
Theorie
Theorie ist ein sich nicht widersprechendes System von Aussagen, das die empirischen Daten ("Basissätze") ordnet und das ermöglicht, über Erfahrungen nachzudenken und zu sprechen.
Transmutation
Übersetzung von einem nichtsprachlichen in ein sprachliches Zeichensystem oder von einem nichtsprachlichen in ein anderes nichtsprachliches Zeichensystem.
U
Uexküll, Thure von
Thure von Uexküll (* 15. März 1908 in Heidelberg; † 29. September 2004 in Freiburg im Breisgau), Sohn Jakob Johann von Uexkülls, war Mediziner und Begründer der psychosomatischen Medizin sowie Mitbegründer der Biosemiotik.
Umgebung
Soziale Konstruktion einer Sprachgemeinschaft für die Umwelten ihrer Mitglieder.
Umwelt
Die von unserer Wahrnehmung (Beobachtung) konstruierte Welt, die uns umgibt und in der wir uns orientieren und handeln können.
In der Umwelt existiert von allen neutralen Vorgängen und Gegenständen, die ein außenstehender Beobachter wahrnimmt, nur ein mehr oder weniger veränderter Ausschnitt. Darin findet sich nur das, was die Sinnes- und Bewegungsorgane (Merk- und Wirkorgane) des lebenden Systems für ihre spezifischen Bedürfnisse auswählen und interpretieren. Diese "subjektive Umwelt" umgibt jedes lebende System als "feste", aber "für den Außenseiter unsichtbare Hülle".
Universalkategorien (nach PEIRCE)
- Erstheit: Kategorie desjenigen, dessen Sein in sich selbst besteht, das weder auf etwas verweist noch hinter einem steht (dazugehörige Zeichenklasse: ikonische Zeichen).
- Zweitheit: Kategorie des Seins in Bezug auf ein Anderes (dazugehörige Zeichenklasse: indexikalische Zeichen).
- Drittheit: Diese Kategorie bezeichnet die Beziehung zwischen einem Ersten und einem Zweiten, d.h. die Kategorie des Allgemeinen, des Gesetzmäßigen und der Gewohnheit (dazugehörige Zeichenklasse: symbolische Zeichen).
V
Viererschema
Das Zeichen der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin zeigt das spätantike Viererschema Feuer - Wasser - Erde - Luft mit dem Zentrum 'mundus-annus-homo' aus der Offizin des ältesten Straßburger Druckers Johann Mentelin (1410-1478). Das Kreisschema macht deutlich, dass die Medizin in der Spätantike "integriert" im Sinne einer Wissenschaft des Menschen als Glied des Kosmos verstanden wurde.
W
Wahrnehmung
Bewusstwerden eines Vorgangs, der durch die Sinnesorgane vermittelt und durch den "inneren Sinn" unmittelbar aufgefasst wird.
Für biologische Systeme bedeutet Wahrnehmung die Fähigkeit, ihre Umgebung für ihre Bedürfnisse und Verhaltensmöglichkeiten in Form zu bringen, d.h. ihre (subjektiven) Umwelten zu konstruieren. Wahrnehmung und Beobachtung erzeugen keine "Abbildungen" einer vorliegenden Realität.
Alle Wahrnehmungen sind durch ein Vorwissen, eine wie immer geartete "Theorie", mitgestaltet, d.h. unsere Theorien bestimmen darüber, was wir sehen und beschreiben (EINSTEIN 1938).
Wirklichkeit
Konstruktion menschlicher Umwelten nach dem Modell des Situationskreises.
Wirklichkeit, gemeinsame
Konstruktion auf der Basis gemeinsamer Interpretanten.
Wirkzeichen
Wirkzeichen löschen Merkzeichen aufgrund eines adäquaten Verhaltens. Sie kontrollieren dessen Viabilität.
Wissenschaft
Wissenschaft ist die methodisch-systematische Erweiterung unseres Wissens in Zusammenhang mit einer Verbreiterung der empirischen Basis und der Ausarbeitung einer Theorie.
Wissenschaft soll Handlungsschemata entwerfen, die zum Erfolg unserer Handlungen führen. Sie soll die Umgebung der Handelnden in die passende Form bringen. Wissenschaft hat nicht die Aufgabe, eine objektive Realität darzustellen.
Z
Zeichen
"Ein Zeichen ('Repräsentamen') ist etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht für etwas steht. Es wendet sich an jemanden, d.h. es erzeugt im Geist dieser Person ein äquivalentes Zeichen" (PEIRCE).
"Das Zeichen ist ein Wahrgenommenes, aus welchem man die Existenz eines Nicht-Wahrgenommenen schließen kann" (LEIBNIZ).
Zeichen, ikonische
Die Zeichen sind auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit dem Objekt ikonisch. Die Qualitäten unserer Wahrnehmung, die daher auch "Quali-Zeichen" genannt werden.
Zeichen, indexikalische
Aufgrund ihrer zeitlichen und räumlichen Beziehung zum Objekt sind Zeichen indexikalisch.
Zeichen, symbolische
Symbolische Zeichen weisen aufgrund einer Konvention auf das Objekt hin.
Zeichen, zweiseitiges
Das Zeichen besteht aus zwei unentbehrlichen Hälften, von denen die eine wahrnehmbar oder empfindbar ("aistheton") und die andere verstehbar oder rational ("noeton") ist (SEBEOK 1979). Die Zweiseitigkeit der Zeichen gilt auf jeder Integrationsebene lebender Systeme, so sind in jeder therapeutischen Handlung Hand und Wort unlösbar verbunden.
Zeichenprozesse
Zeichenprozesse benötigen physikalische und chemische Vorgänge als "Vehikel", um Bedeutungen oder Nachrichten (Informationen) zu "transportieren".
Zeichentheorie
s. "Semiotik"
Zweitheit
In der Peirceschen Kategorie der Zweitheit (secondness) kommt Lernen dazu, ausgetretene Pfade der Erfahrung machen die neuronalen Verknüpfungen komplexer und differenzierter. Lernen, was Zeichen bedeuten, setzt eine gemeinsame Praxis, gemeinsame Intentionen und gemeinsames Handeln voraus und ist nur in der Kultur möglich. Auch ein Kleinkind muss die Zeichen erst lernen, bevor es sie sinnvoll einsetzten und in der Kommunikation mit andern teilen kann.