4. Freiburger Symposium zu den Grundfragen des Menschseins in der Medizin
Teil II, Samstag, 11. Juni 2016
Der zweite Teil des Symposiums am Samstag begann wieder sehr klinisch orientiert; Matthias Girke aus dem Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe (Berlin) blickte mit seinem Vortrag auf die Bedeutung des Hörens am Anfang und am Ende des Lebens. Während wir intrauterin schon lange hören bevor wir sehen, schließen wir am Lebensende die Augen, können aber noch hören und wahrnehmen, was um uns herum geschieht. Als Ärzte sollten wir dies stets berücksichtigen, wenn wir über und nicht mit unserem Patienten sprechen. Um gut zuzuhören benötigen wir laut Girke einen Aufmerksamkeitsraum, eine Kultur der Konzentrationsfähigkeit, und wir müssen uns gegenwärtig sein, was eigentlich unserer Wahrnehmungshorizont ist. Denn frei nach Hufeland: “Der Patient musste sterben, weil der Arzt schon lange gestorben ist.” Und so sei Zuhören das wirksamste Antidot gegen die Desintegration des Patienten.
Der Patient musste sterben, weil der Arzt schon lange gestorben ist.
Einen ganz anderen Aspekt brachte Sabine Dörpinghaus (Köln) ein, die als Professorin für Hebammenkunde beklagte, dass die Geburt eines Kindes mehr und mehr einem Herstellungsprozeß gleiche und dass technische Aspekte in den Vordergrund drängen würden. Mit dem Satz: “Ich spüre was, was Du nicht hörst”, machte sie aber deutlich, wie wichtig für die Hebamme das Vertrauen in ihr eigens Spüren und wie schwer es ist, dies in der Ausbildung zu vermitteln. Dörpinghaus nahm engen Bezug zu Husserls Leibphänomenologie, in der zwischen Leib und Körper unterschieden wird. Als Merkmale der Geburt nannte sie: Erfordernis der leiblichen Seinsweise, Unmöglichkeit einer Standardisierung und Auftreten von Unbestimmtheiten.
Die Bedeutung des leiblichen Verstehens sei für Hebamme und werdende Mutter ganz unterschiedlich. Während die Hebamme eher auf ihren Gesamteindruck “hören” müsse, sei es für die Gebärende eher das passiv-aushaltende Element, dass sich ausbreite bis hin zur Empfindung: “Ich kann nicht mehr!”, ein Satz, den nahezu jede Frau früher oder später unter der Geburt äußere. Obwohl Ansprache unter der Geburt – wie auch beim Sterben – laut Dörpinghaus eher hinderlich sei, scheine es umso wichtiger, mit allen Sinnen zuzuhören. So sei eben die Antwort auf den Satz Ich kann nicht mehr von Gebärender zu Gebärender eine andere. Die eine wolle es einfach nur mal gesagt haben, die andere wünsche sich einen Wechsel in die Badewanne und die dritte benötige eine Schmerzbehandlung mittels Peridualanästhesie. Hier liege der Unterschied zwischen Wissen und Können bei der Hebamme. Insgesamt beklagte Dörpinghaus den Trend, dass immer mehr technische Daten das Handeln der Hebamme bestimmen würden und dass leibliche Erfahrungen und Einschätzungen kaum noch eine Rolle spielten. “Es geht nicht nur um das Gemessene, sondern auch um das Angemessene. Wer Angst vor dem Lebendigen hat, fängt an, es zu vermessen”, so Dörpinghaus weiter. Nicht zu beantworten war abschließend die Frage, wie sich auch forensische Aspekte vor Gericht mit leiblichen Einschätzungen verbinden ließen.
Ebenso an der Praxis orientiert war der Vortrag von Sebastian Debus (Hamburg), der als Gefäßchirurg tagtäglich damit konfrontiert ist, das Risiko einer Operation mit den Wünschen und Ängsten seiner Patienten abzuwägen und deswegen gut zuören muss. Er begann mit einem sehr eindrücklichen Fallbeispiel; ein älter Mann mit einem schweren Aortenaneurysma und hohem Operationsrisiko. Der Mann hatte einige Jahre zuvor seine Ehefrau verloren, nur noch wenig Lebenswillen und dennoch war er gekommen mit der Frage, ob er sich operieren lassen solle. Debus und der Patient erörterten das Für und Wider und man entschloss sich gemeinsam zur Operation. Am morgen der OP sagte der Patient zu Debus: “Es ist gut, wenn es klappt und ich freue mich genauso, wenn ich nicht wieder aufwache.” Mit dieser Haltung konnten beide gut in die Operation gehen, die dann auch tatsächlich erfolgreich war.
Zur Risikosabwägung für Operationen hat man in Hamburg die sogenannte iSWOT-Analyse entwickelt. Die Abkürzung steht für individualiserte SWOT-Analyse, die ursprünglich aus der Wirtschaft kommt und bedeutet,
- Strenght (Stärken)
- Weakness (Schwächen)
- Opportunities (Chancen)
- Threats (Risiken)
gegeneinander abzuwägen. Debus betonte, dass es wichtig sei, einerseits Leitlinien-gerecht zu handeln, andererseits aber auch das Gesamtwohl des Patienten berücksichtigt werden müsse. Man habe mit dieser Form der Entscheidungsfindung gute Erfahrungen gemacht.
Den Abschluß der Tagung machte Peter Matthiesen von der Universität Witten/Herdecke mit seinem sehr kritischen, aber auch humorvollen Beitrag. Wenn der Arzt seinen Patienten frage: “Was haben Sie?”, erkundige er sich nach dessen Befinden. Wenn der Patient hingegen seinen Arzt frage: “Was habe ich?” frage er diesen nach seinem Befund. Das gemeiname Therapieziel müsse eine Besserung des Befindens sein und daher sei es wichtig, sich auch für das Befinden zu interessieren. So zitierte er eine bereits 1972 im Lancet publizierte Studie, bei der Schauspielpatienten sich in die Psychiatrie hätten aufnehmen lassen. Die Symptome seien simuliert gewesen, was niemand des betreuenden Personals – weder Ärzte noch Pflegekräft – bemerkt habe. Die Mitpatienten jedoch hätten es sofort gespürt. Zuhören ist für Matthiesen eine selbstlose Angelegenheit, er sprach sogar von einem Lebendigwerden von Bescheidenheit.
Auch das 4. Freiburger Symposium zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin war durch sein hohes fachliches Niveau gekennzeichnet. Ich hätte mir ein bißchen mehr Zeit für Diskussionen gewünscht, die dargebotene Menge an Informationen war schon bemerkenswert, zuweilen überfordernd. Positiv ist in diesem Zusammenhang sicher zu bewerten, dass alle Symposien als Tagungsband zusammengefasst werden, so dass man die Möglichkeit hat, das ein oder andere nachzulesen. Insofern freue ich mich auf die Zusammenfassung und bin gespannt auf nächste Thema.
Die Tagungsbände im Verlag Herder in der Übersicht:
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