Tagungsbericht

22. Jahrestagung der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin (AIM). © Sven Eisenreich

22. Jahrestagung der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin (AIM)

4. bis 6. November 2021 in Hamburg

Ich möchte einige Überlegungen aus der Zeit der Vorbereitung der Tagung im Rückblick von heute im Januar 2022 schildern und von der Tagung in Auszügen berichten.

Die Hamburger Regionalgruppe übernahm 2019 nach der Tagung in Frankfurt die Aufgabe, das Thema: “Digitalisierung in der Medizin” zum nächsten Tagungsthema zu machen. “Medizin 5.0 und Integrierte Medizin –  Anpassung  Passung  Widerstand”  – wurde als Titel für die Jahrestagung 2021 entwickelt.

Im Titel steht Medizin 5.0, da diese Entwicklungen besonders tiefgreifende Auswirkungen auf die ärztlichen Tätigkeiten und die Situationen von Patientinnen und Patienten haben werden und wir uns fragten, ob die AIM hierzu bereits Erfahrungen vorzutragen vermag? Wie stehen diese Technologien und Integrierte Medizin miteinander in Beziehung? Passen wir uns in unserer ärztlichen Praxis an, gibt es die Möglichkeit von Passungen und wo gilt es widerständig zu sein? Können wir Gefahren, Risiken und Nutzanwendungen sehen und nennen?

Die Vorbereitungsgruppe hat alle Vortragenden und deren Themen so ausgewählt, dass aus unterschiedlichen Perspektiven Haltungen zur Digitalisierung zur Sprache kommen würden. Um Haltungen zu formulieren, bedarf es der Aufmerksamkeit auf Auswirkungen der Informationstechnologien und Kommunikationstechnologien auf die Beziehungen zwischen Personen, im Besonderen zwischen Ärzt:innen und Patient:innen. Die zentrale Frage war für uns, welche Änderungen in der Theorie der Medizin werden sich unweigerlich ergeben? Wozu setzt man sich in Beziehung, wenn man über Medizin 4.0 und über Medizin 5.0 nachdenkt?

Im ersten Fall denkt man über die Wirkungen der Datenverarbeitung und der Kommunikationstechnologien auf das Verhältnis zwischen Ärzt:innen, ihren Patient:innen und deren Kranksein nach. Die Bedeutung vom “Vergeben von Diagnosen” und deren Codierung im Kontext von Anrechnungsstrukturen, den Interessen der Kostenträger und den Notwendigkeiten der Patient:innen kann als Beispiel dienen.

Bei Medizin 5.0 geht es um die Wirkung von Geräten mit deren Konzeptionen und Systemen, die mit Patient:innendaten gefüllt wurden. Zum Beispiel mit Millionen Thorax-Röntgenbildern und dazugehörige Diagnosen oder tausenden von Befunden aus der Tumordiagnostik, die aus Gewebeproben, Angaben zur Genetik der Tumorzellen, Quantifizierungen der Tumorzellanteile, differenzierten Daten über das Immunsystem von Patienten und die bereits stattgehabten Chemotherapien zusammengesetzt sind. Die “Systeme”, die Künstliche Intelligenz genannt werden, (starke und Superintelligenzen), werden so programmiert, dass sie Übertragungsleistungen erstellen, d.h. dass sie aus vorgegebenen Beispielen und Vorgängen als “lernende Systeme” Schlüsse für einen “Fal” ziehen. So entstehen Therapie-Empfehlungen auf der Basis von Big-Data und Ähnlichkeiten, die Algorithmen aus Mustern konstruieren.

Die Vorbereitungsgruppe hat sich immer wieder die Fragen gestellt, welchen Phänomenen begegnen wir im beruflichen Alltag unmittelbar? Der Berufsalltag ist bereits von Medizin 4.0 durchdrungen. In diesem Bereich existiert deutlich gefühlte Ambivalenz und Angestrengtheit. Das Bedienen der Telematikinfrastruktur, der Datenautobahn des Gesundheitswesens, fordert Know-how, Zeit, Investitionen, u.v.a.m. Die Nützlichkeit wird von Kolleg:innen als zwiespältig und unsicher angesehen. Dass diese Einführung unter Zwang, jedenfalls so gut wie ohne Alternative passiert, wird als Unterworfen-Sein erlebt.

Anpassen und Leiden unter den Fehlpassungen und den Passungsverlusten und Suche nach Passung zwischen Berufsalltag, Krankenversorgung und den Fragen nachdenkender Bürger:innen – das hat die Tagungsvorbereitungsgruppe beschäftigt, und sie setzte Hoffnung darein, dass es den Vortragenden und den Teilnehmenden gelingen werde, Wesentliches ins Blickfeld zu holen, um gemeinsames  Nachdenken anzustoßen.

Ab März 2020 prägten die Auswirkungen der Pandemie unsere Orga-Besprechungen. Es begann die Zeit der Videotreffen mit den neuen Erfahrungen, die in dieser Häufigkeit und Bedeutung im Berufsleben bislang nicht vorhanden gewesen waren. Diese Notwendigkeit mit den Kommunikationstechniken zu hantieren wurde zum Pool von eigenen Erfahrungen zum Tagungsthema.

Auseinandersetzung mit der Covid 19-Pandemie – also Themen wie Impfung, Online-Sprechstunde, epidemiologische Fragen sollten nicht in den Focus der Tagungsthemen rücken. Im öffentlichen Diskurs waren beide Bereiche präsent und erkennbar miteinander verbunden. Die Tagungsvorbereitung war bis kurz vor der Eröffnung von den pandemischen Umständen geprägt. Anfang Oktober 2021 mussten wir die Tagungsräume ändern, da die Anmeldungen hinter den Erwartungen zurück blieben. Überraschend war, dass es wenige Kolleginnen und Kollegen gab, die sich für die Online-Übertragung anmeldeten. Die Aufzeichnung durch den Verlag Auditorium Netzwerk wurde von uns abgesagt.  Wir entschieden uns für eine Präsenzveranstaltung. In den Praxisräumen von Marén Möhring war das zum Glück sehr gut zu realisieren.

Am 4.11.21 nachmittags startete die Tagung mit einem gesprächsanalytischenr Live-Workshop mit Elisabeth Gülich und Miriam Haagen, Heike Knerich musste leider absagen. Nach einer Einführung in linguistische Gesprächsanalyse wurde eine Videoaufzeichnung von Jens Prager aus der allgemeinmedizinischen Sprechstunde gemeinsam untersucht. Die Methode wurde im Workshop in ihrer praktischen Nutzanwendung für die Untersuchung von Arzt-Patienten-Gesprächen zur Debatte gestellt.

Der öffentliche Abendvortrag von Aleida Assmann eröffnete die Jahrestagung. Mit ihrem Vortrag: “Neue Perspektiven für den Gemeinsinn” führte Frau Assmann aus, dass eine Arbeitsgruppe an der Universität Konstanz gerade zu Beginn der Covid -19-Pandemie damit begonnen hatte, die Brauchbarkeit des “alten Sinns” Gemeinsinn auf den Prüfstand zu stellen. Der Beginn des Anthropozäns, ausgerufen 2016, habe die Menschheit zu einer Weltnotgemeinschaft gemacht, die mehr brauche, als den in öffentlichen Reden beschworenen Zusammenhalt. Gemeinsinn weite den Blick und fördere übergreifendes Denken und fuße in der “goldenen Regel”: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu.

Diese Regel sei seit Jahrtausenden in allen Kulturen und Religionen der Welt zu finden. Es gelte, so Frau Assmann, sie wieder zu beleben und auf dieser Basis die Menschenrechte zu ergänzen um die Menschenpflichten, die sich aus diesem Grundsatz ableiten lassen.

Am Freitagmorgen war uns Marie Luise Wolff als Zoom-life Übertragung zugeschaltet, da sie aus terminlichen Gründen nicht anreisen konnte. Als Vorsitzende eines Energieunternehmens formulierte sie ihre Perspektive auf Digitalisierung als einer “Superideologie”, wie sie sie in einem Buchtitel genannt hat. “Prometheus 4.0 – was treibt die Digitalisierung und wohin?” war der Titel des Vortrags. Sie nahm Bezug auf Erfahrungen mit Mitarbeiter:innen der Großbetriebe, in denen sie lange tätig war und ist. Die Störungen, die von elektronischen Medien auf die Kommunikation in Gruppen und in betrieblichen Strukturen ausgehen, die die “Kompatibilität untereinander unterminieren” war ihr Thema. Sie stellte fest, dass das Lebendige komplex sei und am Ende nicht durch die komplizierte Zahlenwelt zu erfassen sei. Die digitale Welt entspräche einer trivialen Maschine, ein narrativer Modus sei in dieser Welt nicht möglich. Eine solche Welt führe zu einer sinnlos durchdigitalisierten Gesellschaft, in der das menschliche Bedürfnis nach Sinn und Miteinander ausgelöscht sei. Sie formulierte klare politische Forderungen auf der Basis der Grundrechtecharta der EU vor allem für den Umgang mit den Daten der Bürger:innen, für die Begrenzung der Machtkartelle und die Bekämpfung des destruktiven, kriminellen Missbrauchs der digitalen Techniken.

Christa Möhring sprach über “Digitalisierung und Beziehung” als Historikerin. Sie entwickelte, ausgehend davon, dass es zur Digitalisierung dystopische und utopische Narrative gibt, einen historischen Blickwinkel. Drei Aspekte von Haltungen fokussierte sie: “das Netz wird es richten” (soziale Prozesse),  “Ich habe nichts zu verbergen” (das Abgreifen und Ausbeuten von Daten) sowie “Roboter und Automaten – das bringt einen Mehrgewinn an Souveränität”. Technische Neuerungen, wie sie vor allem in den letzten beiden Jahrhunderten das gesellschaftliche und individuelle Leben verändert haben, zogen auch unvorhergesehene Passungsvorgänge nach sich. Sie sprach von berechtigter Hoffnung, dass die jetzigen Wandlungen keinen vorhersagbaren Verlauf haben werden, und schloss mit der Frage nach dem innewohnenden Sinn und der Frage nach dem Gewinn oder Verlust von Freiheit.

Zentral waren bei diesen drei Vorträgen die Gedanken zum demokratischen Diskurs über Wertvorstellungen und Intentionen von und mittels Digitalisierung. Was wollen wir erreichen? Und an welcher Stelle ist uns evtl. Digitalisierung nützlich. Dies bedeutet die Abkehr von der Vorstellung “Digitalisierung als Wunderwaffe für unsere Probleme und Schwierigkeiten in der Medizin” und meint nicht die Idealisierung der Hinwendung zu einer analogen Werteorientierung.

Peter Schaar zeichnete als früherer Bundesdatenschutzbeauftragter die Entwicklung der Debatte um die elektronische Gesundheitskarte nach, die seit den 90iger Jahren läuft. Von den anfänglichen Vorstellungen einer Bündelung der Patientendaten, die für Ärzt:innen im Alltag und Notfall (möglicherweise) sinnvoll wären, ausgehend, wurde die elektronische Patientenakte und-karte im Zuge der technologischen Entwicklung zum Kontrollinstrument, in dem die Patientendaten wie Rohstoffe ungeschützt der Forschung und der Steuerung zugänglich werden könnten. Die aktuelle politische Situation ist nicht vom Ringen um Konsens geprägt, sondern vom Durchregieren.  Die Profiteure sind nicht die Patient:innen und Ärzt:innen.

Die Kollegen Kolja Nolte und Tobias Filmar von der Poliklinik Veddel stellten das interdisziplinäre, partizipative und Gemeinwesen orientierte Stadtteil-Gesundheitszentrum vor. Ihr besonderer Schwerpunkt liegt bei der “Verhältnisse-Prävention”, womit das Team sich konzeptuell von der allgemein bekannten “Verhaltensprävention” abgrenzt. Die Kollegen berichteten über die Bedeutung der Nutzerinnensprechstunde, den Teamsitzungen und den Plänen der Entwicklung. Die Unterstützung durch die Kassenärztliche Vereinigung ist ungenügend. Durch den Vortrag wurde die Pionierarbeit deutlich und löste viel Sympathie und Interesse beim Auditorium aus. Sie begeisterten mit ihrem sozialpolitischen Engagement und den dazugehörigen Forderungen und erinnerten manchen Zuhörer daran, dass “man” selbst kämpferischer sein könnte. Das wäre ein Gewinn an Freiheit. www.poliklinik1.org

Christoph Schmeling-Kludas bei seinem Vortrag auf der Jahrestagung der AIM.

Am Samstagmorgen stand der Vortrag von Silja Samerski auf dem Programm zu: “Gesichtslose Patient:innen? Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arzt-Patienten-Beziehung”. Frau Samerski musste leider krankheitshalber absagen und verwies uns auf ein bald erscheinendes Buch, in dem sie ihre Studienergebnisse publizieren wird. Auf Initiative eines Münchener Kollegen haben wir den Vortrag von Silja Samerski “Der Patient als Datensatz”  von 2019 (Erfurt) allen Mitgliedern zur Verfügung gestellt.

Der nächste Vortrag von Reinhard Krüger war der Auftakt zum Samstag, er sprach als Psychiater und Psychodramatiker über: “Geht Psychotherapie online? Vorteile und Nachteile der online-Begegnung”. Er formulierte Thesen zur Wirksamkeit von Psychotherapie, die abhängig ist von der Begegnung in Präsenz, weil dann Resonanzen zwischen den Körpern, mit ihren Haltungen, Mimik und Gestik, Gedächtniszentren, Affekten, Handlungen und Sprache stattfinden. Online ist Begegnung in vielfacher Hinsicht deutlich begrenzt, man sieht das Gesicht oder “halbe Körper”, beide Teilnehmer:innen sehen in eine Linse und nicht ins Auge eines Menschen gegenüber und es entstehen keine Gesprächspausen. Pausen im Gespräch sind unverzichtbar für Mentalisierungsvorgänge. Trotz und gerade wegen dieser Abwägungen, die die Vorteile der Präsenz klar machten, zeigte Herr Krüger wie online-Begegnungen, die notgedrungen stattfinden müssen, so gestaltet werden können, dass die Wirkfaktoren von Psychotherapie bestmöglich erhalten bleiben.

Der Vortrag von Christoph Schmeling-Kludas bildete den Abschluss der Tagung. Sein Rückblick auf die Gründung der AIM öffnete einen persönlichen Raum für Erinnerungen, die einige Anwesende im Saal teilten. Das berufliche Leben war sehr erfolgreich und voller intensiver Begegnungen. Für jüngere Teilnehmer:innen wurden historische Entwicklungsstränge deutlich. Christoph Schmeling-Kludas war an der Integration von patientenzentrierter Medizin in die Regelversorgung eines Hamburger Krankenhauses beteiligt und hat später die Aufgaben einer Ärztlichen Krankenhausgeschäftsführung ausgefüllt. Sein Fazit war, dass es deutlich negative Effekte der Digitalisierung auf das Befinden und die Motivation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt.

Geschäftsführungen können diese Auswirkungen verschärfen und auch reduzieren und abmildern. Er berichtete. dass er Solidarität unter den Geschäftsführern erlebte und das in komplexen, schwierigen Prozessen hilfreich war.

Die 22. Jahrestagung in Hamburg fand unter ungewöhnlichen Bedingungen statt. Sie war von intensiver Zusammenarbeit in der Vorbereitungsgruppe und dem Vorstand getragen. Die Entscheidung zur Präsenzveranstaltung war situativ begründet und hat sich bewährt. Wir mussten im Nachhinein die Erfahrung verkraften, dass mehrere Kolleg:innen an Covid-19 erkrankten. So kam das Thema der Pandemie nicht nur über das Hygiene-Konzept zur Geltung, sondern auch durch die Konfrontation mit der geteilten Wirklichkeit der Ansteckungskraft des Covid-19-Virus. Als Teilnehmerin der Vorbereitungsgruppe (weiterhin Christine Schroth der Zweite, Marén Möhring, Philipp Herzog und Jens Prager) und  Covid-Betroffene blicke ich auf intensive Zeiten zurück und nehme einen Lernprozess wahr, der noch lange fortdauern wird.

Anna Staufenbiel-Wandschneider

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