Auf der Suche nach der verlorenen Kunst des Heilens

Aus dem Vorwort von Bernard Lown

Überarbeitung durch Wulf Bertram

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

Die Herausgeber dieses Buchs haben mich um ein Vorwort gebeten. Ich komme dieser Bitte gerne nach. Die Theorie der Humanmedizin meines deutschen Kollegen Thure von Uexküll und seiner Schülerinnen und Schüler dreht sich um die Arzt-Patienten-Beziehung. Ihr Ziel ist es, eine gemeinsame Realität zwischen Patient und Arzt herzustellen. Nur wenn beide “auf der gleichen Seite” oder “derselben Wellenlänge” sind, ist eine Grundlage für Verständnis, Vertrauen, für eine präzise Diagnose und für effektives Heilen gegeben. Da ich lieber meine Patientenerfahrungen teile als mich in Theorie zu ergehen (die Theorie ergibt sich gemeinhin aus dem klinischen Narrativ), möchte ich gerne von einem meiner Patienten berichten, mit dem trotz des sehr limitierten Kontakts schnell ein Rapport hergestellt war. Diese klinische Anekdote spricht ein wesentliches Element bei der Herstellung einer sinnvollen Beziehung zwischen Doktor und Patient an:

Zu Beginn eines jeden Besuchs fragte ich Herrn T. immer: “Wie lange noch?” Er zuckte kichernd mit den Achseln und sagte stets: “Kann jeden Tag soweit sein.“ Diese spielerischen Worte bezogen sich auf seine Psychoanalyse, die nun schon seit mehr als zwanzig Jahren andauerte und die zwei Sitzungen pro Woche umfasste. Eines Tages überraschte mich Herr T. als er sagte: “Dr. Lown, Sie verstehen mich besser als mein Seelenklempner das tut. Sie kennen mein wahres Selbst. Er kennt nur mein imaginäres Selbst.”

Ich habe lange gerätselt, was er mit dieser Bemerkung wohl meint. Herr T. hat ungefähr 2000 Stunden mit dem Psychiater verbracht. Ich sah Herrn T. nur einmal jährlich in einem Zeitraum von ungefähr 10 Jahren. Der einstündige Besuch beinhaltete eine körperliche Untersuchung, eine Blutabnahme, das Ablesen eines Elektrokardiograms sowie eine Urinprobe. Die Unterhaltung zwischen uns kann nicht mehr als eine halbe Stunde beansprucht haben. Vielleicht haben wir insgesamt ungefähr fünf Stunden miteinander gesprochen – ein winziger Bruchteil des freien Flusses an Worten, die man normalerweise mit einem Psychoanalytiker wechselt. Ich habe ähnliche Kommentare von anderen Patienten bekommen.

Meine mehr als fünfzigjährige medizinische Praxis hat mich gelehrt, wie man die Kommunikation zwischen Doktor und Patient optimiert, damit ein sinnvoller und vertraulicher Austausch entstehen kann. Meine Sprechstunden teilten sich in drei gleichlange Abschnitte: die formale Anamnese in meinem privaten Sprechzimmer, die Zeit im Untersuchungsraum und die Rückkehr ins Sprechzimmer um zusammenzufassen, eine Diagnose zu liefern und Medikamente zu verschreiben. Bei einigen Patienten war das Erstgespräch weitschweifig und hat eine Vielzahl unfokussierter Beschwerden zum Vorschein gebracht. Ich fühlte mich uninformiert darüber, wer der Patient wirklich war, war mir nicht im Klaren über den Grund des Besuchs und unsicher, was von mir erwartet wurde. Die Person hinter den Beschwerden blieb verborgen. Der Patient schien meine Frustration zu teilen.

In solchen Fällen hielt ich dann mitten in der körperlichen Untersuchung inne, um nochmal Hintergrund, Familie, Arbeit, Hobbies usw. des Patienten auszuloten. Fast immer ergab sich eine lebhafte Unterhaltung, gerade so als ob ein Hahn aufgedreht worden wäre, der einen freien Fluss an bedeutsamen Enthüllungen zuließ. Doktor und Patient waren auf der gleichen Seite. Der Grund für den Besuch machte Sinn. Was hatte zu dieser Transformation geführt?

Eine medizinische Untersuchung ist ein Akt der sanktionierten Aggression.

Eine medizinische Untersuchung ist ein Akt der sanktionierten Aggression: das Hochziehen der Augenlider,um die Beschaffenheit und Färbung der Bindehaut zu prüfen; das Niederdrücken der Zunge für einen Blick auf Mandeln und Uvula; am Hals entlang streichen, um die Größe der Schilddrüse zu bestimmen; abklopfen und abtasten des Brustkorbs, um das Mysterium des schlagenden Herzens und der Sauerstoff absorbierenden Lungen zu enthüllen. Anschließend wird noch in den Bauch gedrückt, um zu weiteren Einsichten zu gelangen, und dann mit dem Berühren, Drücken, und Streichen fortgefahren, bis man die großen Zehen erreicht. Die ganze Zeit drehen Hände Pirouetten über dem Körper eines Fremden, und zwar ohne Protest gegenüber dieser Körperverletzung, die unsere Sitte legitimiert hat. Dieses Ritual ist nicht bloß eine anatomische Exploration, sondern auch ein Vertrauen bildendes Unterfangen.

Bei Rückkehr in das Sprechzimmer für die Zusammenfassung, Diagnose und Beratung waren wir keine Fremden mehr. Die körperliche Untersuchung war transformativ. Anstatt einer feindlichen Invasion der Privatsphäre war es eine Begegnung, die man mit Liebemachen vergleichen kann. Der alleinige Aspekt für diese fast magische Transformation ist die Berührung.

Das Handauflegen ist des Doktors älteste Kunstfertigkeit und Bestandteil seines oder ihres frühesten Professionalismus. Bis zum 20. Jahrhundert gab es darüber hinaus relativ wenig, was ein Doktor den meisten Patienten anbieten konnte. Mit der Zeit wurde aus einem einfachen Akt des Mitgefühls eine Kunst. Und schließlich wurde die Berührung auch zu einer veritablen wissenschaftlichen Kunstfertigkeit. Die Hand wurde zu einem diagnostischen Instrument des Experten, das ihm oder ihr Informationen preisgeben konnte, die auf andere Art nicht zu erhalten waren. Die technologische Dauerrevolution hat die körperliche Untersuchung beiseitegeschoben, und das Handauflegen wird nicht mehr gelehrt oder praktiziert.

Als ich 2004 mein Buch “The Lost Art of Healing” in Frankfurt vorstellte, lernte ich die AIM und einige führende Persönlichkeiten dieser Organisation kennen. Ich habe mit Genugtuung erfahren, dass wir eine gemeinsame klinische Perspektive der Partnerschaft zwischen Arzt und Patient teilen, sowie das Ziel der Schaffung einer gemeinsamen Realität, die sowohl psychologische als auch soziale Dimensionen umfasst. Ich freue mich, dass ich in einem wichtigen Buch dieser Gruppe engagierter deutscher Ärzte präsent sein darf. Die Mitglieder dieser Gruppe treten für eine Medizin ein, die nicht zwiegespalten ist in eine für kranke Körper ohne Seelen und eine für beschädigte Seelen ohne Körper – wie Thure von Uexküll es beschrieben hat. Stattdessen sind sie Vermittler einer Heilkunst für Menschen, in denen Körper und Psyche untrennbar verbunden sind. Ich hoffe, dass diese außergewöhnliche Materialsammlung zur Theorie und Praxis einer Medizin mit menschlichem Gesicht die große Leserschaft erreicht, die sie verdient.

Bernard Lown, MD

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