Lebendspende als artefizielle Passungsstörung

Sven Eisenreich, Psychosomatiker aus Frankfurt a. M. © Sven Eisenreich

Fragen der Transplantationsmedizin

Eine Anregung zum Nachdenken

Gesundheit und Krankheit sind im Verständnis einer Integrierten Medizin Ausdruck einer gelungenen oder fehlgeschlagenen Passung zwischen Organismus und Umwelt. Diese Passungsstörung kann sich in Anlehung an G. Engels bio-psycho-sozialem Modell auf unterschiedlichen Hierarchieebenen befinden.

Krankheit ist aber auch eine Wirklichkeitskonstruktion. Was wir als gesund und krank definieren ist kontextabhängig, sowohl gesellschaftlich als auch in der gemeinsamen Sprache zwischen Patient und behandelndem Arzt. Die Idee der Lebendspende ist es, das Organ eines gesunden Spenders auf einen kranken Menschen zu übertragen und ihm dadurch zu helfen. Den Großteil der Lebendspende macht dabei die Nierentransplantation aus. In einem technischen Sinne, also im Maschinenmodell gedacht, ist diese Idee zunächst verführerisch einfach, übersieht aber in der Praxis, dass für Spender und Empfänger neue Wirklichkeiten entstehen, die eine neue, andere Passung erforderlich machen.

Gesundheit als selbstvergessene Leiblichkeit.

Versteht man Gesundheit nämlich im Sinne Hans-Georg Gadamers als selbstvergessene Leiblichkeit, dann muss die Lebendspende zwangsläufig in ein moralisches Dilemma münden. Das Ziel, Krankheit zu überwinden bzw. zu behandeln wird mit dem Preis bezahlt, sie an anderer Stelle neu zu erzeugen. Denn wir verdoppeln durch die Transplantation nicht etwa nur Gesundheit, sondern streng genommen auch Krankheit. Vom ersten Gedanken an die Lebendspende bis weit über die Transplantation hinaus wird es sowohl Empfänger als auch Spender über weite Strecken kaum gelingen, die eigene Leiblichkeit zu vergessen. Das gesamte technische Verfahren der Vorbreitung, der Transplantation und auch der Nachsorge betrifft vielleicht aus Sicht der Ärzte nur den körperlichen Aspekt. Die betroffenenen Menschen aber sind in ihrem Leibsein berührt und schon lange vor dem eigentlichen Eingriff entsteht für alle Beteiligten eine neue Wirklichkeit, auch und vor allem  im (potentiellen) Spender.

Es geht dabei weniger um die Frage, ob die Lebendspende richtig oder falsch, gut oder schlecht ist. Viel mehr sollte den transplantierenden  Ärzten klar sein, dass wir allein mit der Frage nach einer Lebendspende die selbstvergessene Leiblichkeit des Spenders infrage stellen und er somit zum Kranken werden kann, unabhängig davon, ob wir ihn für einen solchen halten oder nicht. Denn obwohl wir für die Lebendspende gerade einen gesunden Spender als Voraussetzung fordern, kann dieser durch unser  Anliegen zum Kranken werden. Wir gefährden durch unser eigenes Handeln das, was wir im Ergebnis zu erhalten wünschen.

Dieser Aspekt sollte in die Überlegungen vor einer möglichen Lebendspende mitbedacht werden, denn nicht nur der Empfänger hat im wahrsten Sinne des Wortes echte Integrationsarbeit zu leisten, sonder auch der Spender muss den Organverlust in sein Körper- und Selbstbild integrierten. Integrierte Medizin sollte also auch in diesem hochspezialisiertem Fachgebiet alltäglich sein.

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Dr. med. Sven Eisenreich
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

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