Hoffen ist Nicht-Wissen
Lassen Sie uns einfach weitermachen
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der AIM,
das Jahr 2016 stand hierzulande ganz im Zeichen der (versuchten) Integration, aber leider vielerorten auch der Desintegration. Unvorstellbare Dinge sind Wirklichkeit geworden und Nachrichten zu schauen ist kaum noch möglich, ohne zu verzweifeln und die eigene Hilflosigkeit zu spüren.
Wie soll man da am Jahresende zurückblicken und was soll man (sich) wünschen oder worauf soll man hoffen?
Vielleicht beginne ich am besten mit Bernard Lown, der vor über dreißig Jahren die Organisation IPPNW – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. mitbegründete und dafür später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Die Arbeit der IPPNW ist heute wichtiger denn je, wie die Ankündigungen Russlands und der USA in den letzten Tagen wieder gezeigt haben. Lown ist aber auch AIM-Ehrenmitglied, und er hat als einer der führenden Kardiologen weltweit aufgezeigt, was Integrierte Medizin bedeuten kann und wie sich diese im Sinne Thure von Uexkülls in jedem Fachgebiet der ärztlichen Heilkunde leben lässt. Auch wenn in der Satzung der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin (AIM) steht, dass sie eine unpolitische Organisation ist, gibt es für mich kein unpolitisches Arzt sein. Vielmehr scheint mir die Ergänzung der IPPNW – Ärzte in sozialer Verantwortung – eine gute Richtschnur zu sein. Wir sind in unserem Heilberuf nicht nur täglich politischen Entscheidungen ausgesetzt, die wir auszuhalten bzw. umzusetzen haben, sondern wir werden mit unserer Tätigkeit unmittelbar verwickelt, ja instrumentalisiert und tragen eine hohe soziale Verantwortung. Die gutachterlichen Stellungnahmen zur Abschiebefähigkeit von Menschen, die geflohen sind und Schutz suchen, zeigen dies besonders. Umso empörender finde ich die Aussage unseres Bundesinnenministers, wenn er von “Vollzugsdefiziten bei der Abschiebung” spricht und den Ärzten generell unterstellt, sie würden Atteste einfach falsch ausstellen! Diese Aussagen sind durch nichts belegt und umso mehr möchte ich Ihnen noch einmal die Kolumnen von unserem AIM-Mitglied Bernd Hontschik ans Herz legen, die regelmäßig in der Frankfurter Rundschau erscheinen und auch auf unserer Website veröffentlicht werden (z. B. Abschiebehindernis, Kolumne Nr. 152). Hontschik legt immer wieder den Finger in die politische Wunde.
Es ist Ihnen ja bewußt, daß dieses mechanistische Denken nicht nur in der Medizin herrscht, sondern daß unsere ganze Gesellschaft und ihre Funktionsweise so gesehen wird, so daß es eigentlich eine heroische Anstrengung ist, in einem Bereich dagegen anzuarbeiten. Aber irgendwo muß man ja schließlich anfangen, und in der Medizin ist es sicher auch besonders wichtig.
Noch viel politischer war natürlich Christa Wolf, die – für viele wahrscheinlich überraschend – auch zur Integrierten Medizin Stellung bezogen hat. Wir haben kürzlich auf unserer Internetseite auf das posthum erschiene Buch: Man steht bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952-2011, hingewiesen.
Wolf hat in einer Korrespondenz mit Bernd Hontschik das ganze Dilemma der Integrierte Medizin in wenigen Sätzen zusammengefasst und sogar noch ausgeweitet: “…Es ist Ihnen ja bewußt, daß dieses mechanistische Denken nicht nur in der Medizin herrscht, sondern daß unsere ganze Gesellschaft und ihre Funktionsweise so gesehen wird, so daß es eigentlich eine heroische Anstrengung ist, in einem Bereich dagegen anzuarbeiten. Aber irgendwo muß man ja schließlich anfangen, und in der Medizin ist es sicher auch besonders wichtig.”
Auch wenn es die täglichen Anstrengungen natürlich nicht leichter werden lässt, haben diese Worte dennoch etwas Tröstendes für mich, zeigen sie doch, dass Wolf unmittelbar das Anliegen der AIM verstanden hat und zugleich darauf verweist, dass das Maschinen-Modell des Menschen nicht allein ein medizinisches, sondern ein gesellschaftliches Problem darstellt. Und so ist unser Anliegen einmal mehr ein politisches! Und wir sind nicht alleine!
Die politischen Geschehnisse des vergangenen Jahres haben gezeigt, wie komplex die Zusammenhänge in einer globalisierten Welt sind und von Umberto Eco soll das Zitat stammen: “Auf eine komplexe Frage gibt es nur eine Antwort. Und die ist falsch!” (Nota bene: Eco war Lehrstuhlinhaber für Semiotik an der Universität Bologna und insofern ein weiterer literarischer Mitstreiter wie Christa Wolf, nur diesmal mehr für semiotische Zusammenhänge).
Komplexität in der Medizin war daher auch ein wichtiges Diskussionsthema im Vorstand der AIM und der Grund, warum wir es zum Anlass genommen haben, darüber eine Jahrestagung veranstalten zu wollen. Vom 28. bis 29. April 2017 werden wir – erstmals! – in Innsbruck tagen unter dem Titel: “Einfach zu komplex? Medizinische Vielfalt für die Praxis begreifbar machen.” Wir werden versuchen aufzuzeigen, wie komplex die (scheinbar) einfache Behandlung eines Menschen im Alltag sein kann und wieviel Mühe es kostet, sich dem immer wieder zu stellen. Besonders erfreulich ist es für uns, dass wir nicht nur langjährige AIM-Mitglieder mit einer unglaublichen klinischen Erfahrung als Referenten gewinnen konnten (z. B. Reinhard Plassmann, Herbert Kappauf, Christian Schubert), sondern mit Mareike Weibezahl auch eine Vertreterin der nächsten Ärzte-Generation zu Wort kommt, um von ihren Vorstellungen und Sorgen zu sprechen. Merken Sie sich den Termin also bitte vor und melden Sie sich an: innsbruck2017@uexkuell-akademie.de. Und empfehlen Sie uns weiter!
Es bliebe sicher noch vieles zu sagen, aber das wichtigste scheint mir zu sein: Lassen Sie uns (einfach!) weitermachen. Warum? Weil ich immer noch Hoffnung auf Veränderung habe, und ein Symbol der Hoffnung ist für mich ein Bild geworden, dass ich 2014 zufällig auf der Rückfahrt von Freiburg nach Frankfurt gemacht habe. Ich kam ironischerweise von einer Tagung von Professor Giovanni Maio, die den Titel trug: “Die Kunst des Hoffens. Kranksein zwischen Verlust und Neuorientierung.” Und plötzlich sah ich an der Autobahn diese Störche und dachte mir: Wenn es Leben an so unwirtlichen Orten geben kann, dann gibt es tatsächlich noch Hoffnung!
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute für das Jahr 2017!
Ihr Sven Eisenreich
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