Die Corona-Pandemie aus (der möglichen) Sicht einer Integrierten Medizin
Dienstag, 31. März 2020 – Woche 2
Es brauchte ein paar Tage Pause, um Gedanken neu sortieren und weiterschreiben zu können. Die urpsrüngliche Idee eines täglichen Blogs ist aufgrund der derzeitigen Arbeitsbelastung sicher nicht weiter umzusetzen, aber mittlerweile haben ja auch andere Mitglieder der Thure von Uexküll-Akdemie für Integrierte Medizin (AIM) Beiträge geschrieben und veröffentlicht. Außerdem entstehen auch nicht jeden Tag neue Gedanken.
Es ist nunmehr die zweite Woche nach Entlassung der meisten unserer psychosomatisch kranken Patientinnen und Patienten, die Struktur eines bisher gewohnten Arbeitstages hat sich aufgelöst. Ich vermisse den Kern meiner täglichen Arbeit: das psychotherapeutische Einzelgespräch, den Austausch im Team, das psychodynamische Denken. Ich frage mich, wie es wohl “meinen” Patientinnen geht, die ich nach Hause geschickt habe.
Die Direktion der Stiftung versucht eine neue Struktur für die Abteilungen und Abläufe zu finden. Wir werden als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über das Intranet täglich mit einem Newsletter versorgt, der aktuelle Informationen bereitstellt. Unter anderem werden auch Zahlen in Zusammenhänge eingebettet: wieviele Patientinnen und Patienten sind in Hessen infiziert, hospitalisisert, beatmetet etc., wieviele in Frankfurt und wieviele in unserer Stiftung. Das ist sehr hilfreich, weil so auch schnell eine Entwicklung sichtbar wird. Überhaupt: Kontexte zu sogenannten Fakten scheinen mir immer bedeutsamer, worauf auch Ellis Huber in seinem Beitrag eingeht.
Ein paar Screenshots aus dem Alltag:
- Der Klinikverbund Hessen teilt mit, dass es bereits erste Meldungen gibt, dass auch Behandlungen von COVID19-Patienten vom MDK angefragt werden. Unglaublich!
- Die Beiträge im Netz, die von einer Zunahme der häuslichen Gewalt unter der Isolation ausgehen, mehren sich (Gefangen auf engstem Raum, SZ vom 31.03.2020, DÄB Kinderschutz ist systemrelevant).
- Der Staat gegen Corona: Bernd Hontschik, Chirurg, Publizist und Mitglied der AIM spricht in einem Radiointerview bei SWR2 über die Mitursachen der jetzigen Krise.
Besonders hilfreich aber finde ich den Link zu einem Beitrag, den mir meine Vorstandskollegin Anna Staufenbiel-Wandschneider aus Hamburg zukommen lässt: Mit Foucault die Pandemie verstehen.
Der Schweizer Historiker Philip Sarasin wirft die Frage auf, ob man mit theoretischen Konzepten und historischen Beispielen, die Michel Foucault in den 1970er Jahren entwickelte, die gegenwärtige Lage deuten kann? Neben seiner Antwort (Ja, man kann – aber anders, als man denkt), finde ich diesen Beitrag deswegen so hilfreich, weil er zeigt, dass auch und gerade im klinischen Alltag modellhafte theoretische Überlegungen von enormer Wichtigkeit sind, um auch nicht unmittelbar sichtbare Strukturen und Gefahren zu erkennen. Thure von Uexküll hatte stets darauf hingewiesen, dass es auch eine Theorie der Humanmedizin braucht, um Krankheit und Kranksein verstehen zu können.
Die sozialen Auswirkungen, die die jetzige Krise auf uns alle hat, sind zwar schon unmittelbar spürbar, aber sicher erst retrospetkiv versteh- und deutbar. Ich merke aber, wie schwierig es derzeit ist, in der öffentlichen Debatte zu gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktionen zu kommen. Zeichen werden als scheinbar undeutbare Fakten explizit so benannt, nicht diskutabel, objektiv und wahr … es gibt nur ein entweder oder.
Die innere Spannung, die entsteht, wenn man sich nicht für oder gegen ein Argument entscheiden kann und will, ist mitunter schwer auszuhalten. Aber wenn wir soziale und damit lernende Wesen sind, dann sollte sich die öffentliche Diskussionskultur ändern, die ich weniger als lernend, sondern vielmehr als belehrend erlebe, in der man entweder klug oder dumm sein kann.
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