Heile und Herrsche

Eine Buchrezension

Von Herbert Kappauf

Die Eingangsfrage, worum es in diesem Buch geht, beantwortet der Titel des nachfolgenden Kapitels: Geld. Das dem Buch vorangestellte Motto hat da schon ergänzt: Um das Gesundheitssystem zu verstehen, reiche es heute nicht mehr aus, der Spur des Geldes zu folgen, wichtig sei auch die Spur der Macht. Auf diesen Spuren durchdringt eine brennende und auch zornige Sorge um eine bedrohte patientenzentrierte Heilkunst jede Seite des Buchs. Sein Autor Bernd Hontschik ist ein erfahrener und geerdeter Chirurg. Einer seiner nachhaltigen wissenschaftlichen Verdienste ist es, durch ein von “Opinionleaders” belächeltes psychosomatisches Symptomverständnis die Indikationsqualität zur Appendektomie so verbessert zu haben, dass jährlich Tausenden, vor allem jungen Frauen, eine Blinddarmoperation erspart bleibt. Wer könnte somit den Wandel eines sozialen Gesundheitswesens zur milliardenschweren Gesundheitswirtschaft mit ihrem Selbstverständnis von Leistungsportfolios, Leistungserbringern und deren Forderung, dass “das (Ent)Geld der Leistung folgen” müsse, glaubwürdiger kritisieren? Hat er doch belegt, dass die beste ärztliche Behandlung eines Patienten manchmal darin besteht, kritisch auf eine betriebswirtschaftlich lukrative Leistung oder Prozedur des eigenen Fachkönnens zu verzichten. Hontschik dokumentiert anhand der kleinen und großen gesundheitspolitischen Nachrichten der letzten Jahrzehnte zeitrafferartig die Destruktion der Fundamente eines sozialen Gesundheitswesens durch profitorientierte Kommerzialisierung und der Übernahme von Qualitätskonzepten aus industriellen Fertigungsprozessen.

Der Kranke als Subjekt einer patientenorientieren Medizin ist zum Objekt einer Versorgungskette geworden

Der Kranke als Subjekt einer patientenorientieren Medizin ist zum Objekt einer Versorgungskette geworden, in der das Erlöspotential von Leistungen den Behandlungsalltag bestimmt. Solange sich mit diesen Leistungen Geld verdienen lässt, wird die Selbstwirksamkeit der Patienten dann auf Zuzahlungen reduziert. Mitmenschliche Zuwendung wurde zum unproduktiven Kostenfaktor. Dementsprechend sind in den letzten Jahrzehnten 50.000 Pflegestellen gestrichen worden. Sie wurden im großen Ausmaß ersetzt durch Planstellen für Controlling, Dokumentation und die erlösrelevante Leistungskodierung in den Kliniken – aber auch bei den Krankenkassen zur Plausibilitätskontrolle, Leistungssteuerung und um einen möglichst großen Anteil aus dem zentralen Gesundheitsfonds zu begründen. Bürokratisierung, Aufwertung patientenferner Tätigkeiten und eine Digitalisierung, die sich an der ärztlichen Schweigepflicht reibt, sind dann nicht überschießende Fehlentwicklungen, sondern Notwendigkeiten dieser kommerzialisierten Medizinkonzeption, bei der die umfassende Sammlung von Gesundheitsdaten im Sinne von “Big Data” dazu dient, weiteren Reichtum zu generieren. Hontschik sieht hier eine neue Stufe in der Veränderung der Medizin, wenn die therapeutische Wertschätzung von Kranken nicht nur abgelöst wird von Wertschöpfung aus Krankheit, sondern diese Medizin zum gesellschaftliches Herrschaftsinstrument wird.

Heile und Herrsche! Westend Verlag GmbH. 144 Seiten. 18,00 €.

Dies belegt er mit gerade in der Coronapandemie gehäuften Vorstößen, das Solidaritätsprinzip der Krankenversicherung aufzuweichen oder exekutiv unbequeme wissenschaftliche Meinungen zu entwerten. Als Leser bleibt für mich das neuartige dieses Missbrauchs von Machtstrukturen etwas vage. Ist doch die Einbindung der Medizin in Machtstrukturen keineswegs neu und auch nicht deren Missbrauch: die Elimination von jüdischen oder sozialistischen Ärzt:innen im Nationalsozialismus, die Entlassung von Wissenschaftler:innen  oder Ärzt:innen aus akademischen Forschungseinrichtungen und Kliniken auf Druck der Tabaklobby oder Pharmaindustrie oder banal die kirchlichen Krankenhausträgern zugestandene existenzgefährdende Einflussnahme auf das Privatleben ihrer Mitarbeiter:innen. Als Leser des Buchs setzte ich somit bei manchen plakativen Aussagen zu einem: “Ja, aber…” an, übrig blieb meist aber nur ein: “Ja, leider!” Ein lesenswertes faktenreiches Buch!

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