Reizhirnsyndrom

Fasten statt Schonkost: Internetfasten

Ein Leserbrief von Katja Walesch

Katja Walesch ist Allgemeinärztin in Frankfurt am Main in eigener Praxis und Mitglied der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin (AIM).

Sie hat als eine der ersten Leserinnen auf den Blog “Hotel Corona” reagiert und mir ihre Gedanken dazu geschrieben. Wir haben vereinbart, einen weiteren Briefwechsel hier zu veröffentlichen.

# Noch nie war ich soviel im Netz unterwegs wie in der letzten Woche. Unübersichtliche und unbewältigbare Fluten. Ich merke, wie es gehen kann, wenn man immer öfter im Internet herumzusurft. Welch Mit-Teilungsbedarf dort. Vor diesem Hintergrund bekommt das geflügelte Wort, ‘Nachrichten gingen viral’, eine ganz neue Beleuchtung. Wie sehr man Dinge, über die man in der Einsamkeit vor dem eigenen Bildschirm stolpert (vom Hölzchen aufs Stöckchen undsoweiter), mit anderen zu teilen bedarf, was da an Kräften gebunden wird! … Die ich besser für anderes nutzen möchte.

Die Links, die ich hier versendet habe, würde ich heute nicht mehr so versenden. Absgesehen von der frappierenden SchnellLebigkeit solcher Informationen (ich erinnere mich an einen Spruch aus der “Pressezeit”: Nichts ist so alt wie die Tageszeitung vom Vortag) würde ich, wenn ich Nachrichten teilen wollen würde, sie nicht mehr “en bloc” versenden, sondern lieber eine Essenz herausdestillieren und diese mitteilen (das hat dann mit dem Hirnstoffwechsel zu tun, siehe mein Leserbrief vom 29.03.2020).

Nachrichten sind wie kleine Viren: Sie wollen geteilt werden und vermehren sich in gutem Nährboden exponentiell. Das Internet und all die digitalen Möglichkeiten (ein, zwei Klicks und schwupps, ist das Ding verteilt) verführen dazu, Stoffwechselvorgänge zu überspringen. Das tut auf Dauer nicht gut, macht Bauchschmerzen. Reizdarmsyndrom gar. Dabei kann auch Unangenehmes “hinten rauskommen”. Reizhirnsyndrom … Anregung zu einer neuen ICD-Nummer?
Fasten statt Schonkost: Internetfasten hilft. Ein bißchen weniger von allem. Und länger kauen. Verdauen beginnt mit dem Kauen, das ist nicht nur für Zahnmedizin und Gastroenterologie interessant, sondern auch für die Hirn-und-Nervenhygiene.

Und wie geht es sonst so? Die KV hat auf mein Hilfsangebot geantwortet: Es hätten sich sehr viele Kollegen auf den Aufruf gemeldet, man käme zu gegebener Zeit auf mich zu. Alle warnen vor der Welle, die noch kommen werde. Wie hoch sie wohl sein wird? Pandemien sind tückisch.

Vor zwei, drei Tagen wurde in einer Nachrichtensendung des öffentlich rechtlichen Fernsehens ein Mitglied des deutschen Ethikrates befragt. Dessen Antwort enthielt die Aussage: Die Politiker müssen den Wissenschaftlern zuhören, doch sie müssen auch aufpassen, daß sie den Wissenschaftlern nicht hörig werden. Diesen Zuspruch fand ich bemerkenswert.

Meine Sorge ist, daß beim allseitig konzentrierten Schauen auf die Corona-Vermehrungskurve das passiert (ist?), was immer wieder auch in der Medizin passiert: Fasziniert bzw. entsetzt bis paralysiert wird auf errungene Werte geschaut, und in dem Bemühen, Laborwerte oder Bildmaterial zu behandeln, geht der Blick fürs Ganze verloren.

In diesem Sinne, (mit leichten Bauchschmerzen)

Liebe Grüße, Katja Walesch

corona@aim.com.de

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