Oder COVID-19 und die Kriegsmetapher
Warum wir nicht im Krieg sind
Die Nachrichten dieser Tage sind voll von Kriegsmetaphern, und der französische Staatspräsident Emannuel Macron benutzte gar keine Metapher, als er der Nation gegenüber in seiner Fernsehansprache vom 16. März 2020 erklärte: „Wir sind im Krieg“. Ärztinnen und Pflegekräfte kämpfen fortan nicht mehr auf Intensivstationen, sondern an vorderster Front um das Leben der Opfer, die Ziel eines Angriffs durch einen Feind geworden sind, der besiegt werden muss. Sechs Kriegsbegriffe in einem einzigen Satz und jeder begreift unmittelbar die Botschaft: es geht um alles, es geht um unser Überleben, sonst werden wir vernichtet. Die Kriegsmetapher scheint auch deswegen so gut zu passen, weil das Virus sich weltweit wie in einem Eroberungsfeldzug ausbreitet.
Aber die Kriegsmetapher ist falsch. Und sie ist gefährlich.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) bietet in seinem sogenannten COVID-19-Dashboard eine tagesaktuelle Übersicht des Infektionsgeschehens in der Bundesrepublik Deutschland. Die Daten werden mit Hilfe der Nationalen Plattform für Geografische Daten (NPGEO) präsentiert und die scheinbar absoluten Zahlen werden vom RKI als sogenannte Kennzahlen bezeichnet – objektiv, klar definiert, vergleichbar. Und Kennzahl klingt gut: ich kenne mich aus, ich erkenne jemanden wieder, ich lerne etwas kennen. Das Wort ist beruhigend, schafft Vertrauen. Das Unbekannte hingegen löst eher Unbehagen aus. Den unbekannten Täter kennen wir aus der Welt der Kriminalität. Er macht uns Angst, er erscheint uns heimtückisch, und wir wissen nicht, was er als nächstes vorhat oder wen es als nächstes trifft. Das Virus ist der unbekannte Täter, das RKI die aufdeckende Ermittlungsbehörde.
Kriminalität. Krieg. Feldzug. Ist die Auseinandersetzung mit Begrifflichkeiten in dieser Situation nicht semantische Spielerei? Haben wir nichts Wichtigeres zu tun? Doch, haben wir. Aber so wie uns das Virus infizieren und krank machen kann, können uns auch Begriffe infizieren und krank machen. Oder wir werden gegen sie immun und erleben sie als nicht mehr gefährlich.
Der Begriff des Kalten Krieges hat in den Achtziger Jahren meine Generation maßgeblich geprägt, und viele von uns waren manchmal krank vor Angst. Die Bedrohung durch einen Atomkrieg war real, und vielleicht hat das Prinzip der nuklearen Abschreckung tatsächlich gewirkt, weil alle wussten, dass es keine Überlebenden geben wird. Aber wir waren nicht immun gegen diese Angst.
Heute erlebe ich die Debatte anders. Warum führte Macron den Begriff des Krieges ein? Über seine wahren Motive kann man nur spekulieren, aber seine Kriegserklärung war wirkmächtig. Kaum ein Text über das Virus, den man liest, der nicht eine Kampfmetapher enthält.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Ähnlichkeit der Prozesse und der damit verbundenen Begriffe, die sich auf biologischer, genauer gesagt immunologischer, psychischer und gesellschaftlicher Ebene abspielen. Erläutert sei dies am Beispiel des Begriffs der Abwehr.
Auf der biologischen Ebene ist unser Immunsystem – vereinfacht ausgedrückt – dafür zuständig, Krankheitserreger abzuwehren. Schon hier fällt der Kampfbegriff der Wehr auf – sich gegen etwas zur Wehr setzen oder auch Bundeswehr. Nach der Abwehr, also der kämpferischen Auseinandersetzung, kommt die Immunität – lateinisch immunitas für “Freiheit von etwas”. In Bezug auf unser Sein könnte man darunter “Freiheit von Krankheit” verstehen. Als Eigenschaftswort kann immun sein aber auch bedeuten “gefeit gegen” oder “frei von”. Eine Impfung feit uns gegen eine weitere Infektion oder macht uns frei vom Kranksein. Dies sind zwei unterschiedliche Aspekte eines zwar ähnlichen, aber nicht gleichen Zustands. “Gegen” ist zielgerichtet und einschränkend, “frei sein” eröffnet dagegen einen Möglichkeitsraum.
Auf der psychischen Ebene geht der Begriff der Abwehr maßgeblich auf Sigmund Freud zurück, der damit die meist unbewusste Verdrängung konflikthafter seelischer Prozesse beschrieb. Freud stellte sich darunter eine Art Lösungsversuch vor, um den seelischen Binnenraum frei von unangenehmen Gefühlen zu halten. Aber auch in dieser Annahme fällt der Konflikt als kriegsnaher Begriff auf, sprechen wir doch von bewaffneten Konflikten, wenn wir Krieg meinen.
Auf der gesellschaftlichen Ebene sind Abwehrprozesse vielleicht am unmittelbarsten erleb- und nachvollziehbar. Ständig müssen wir uns wehren respektive schützen: vor Fake News, vor Flüchtlingsströmen (müssen wir?), vor Handelskriegen, vor Gewalttätern. Die Liste ist beliebig fortsetzbar und jeder hat seine eigene. Selbst unsere Computer besitzen eine Firewall, um sich gegen unliebsame Eindringlinge zu schützen. Viren. Virtuelle Viren zwar, aber im Zweifel ebenfalls tödlich.
Jede Systemebene kämpft also ihren eigenen Kampf, aber die Begriffe sind stets die gleichen: Konflikt, Angriff, Bedrohung, Vernichtung, Sieg oder Niederlage.
Der oben zitierte Satz ohne Kriegsmetapher könnte lauten: “Ärztinnen und Pflegekräfte setzen sich auf Intensivstationen für das Leben ihrer Patientinnen und Patienten ein, die eine schwere Virusinfektion erlitten haben und denen dringend geholfen werden muss.” Hier steht nicht der Kampf, sondern die Fürsorge und Hilfe begrifflich im Vordergrund. Der damit verbundene Affekt ist weniger Angst als vielmehr Anteilnahme.
Abwehrprozesse finden sich also in einem bio-psycho-sozialen Menschenmodell auf jeder Systemebene; es handelt sich um selbstähnliche Strukturen, sogenannte Fraktale. Selbstähnliche Strukturen finden sich überall in der Natur. Es sind Wiederholungen von Mustern. Ein Baum mit seiner Verästelung vom Stamm über die Zweige bis ins kleinste Blatt hat eine selbstähnliche Struktur. Wenn sich aber die ablaufenden Prozesse und die Begriffe gleichermaßen wiederholen, müssen sich die Prozesse auch auf die Begriffe anwenden lassen!
Das bedeutet aus meiner Sicht, dass wir mit Kriegsbegriffen beimpft werden, um gegen sie und nicht das Virus immun zu werden. Eine kontrollierte politisch motivierte Exposition, eine Art der kontinuierlichen Feiung. Wie bei einer Impfung bilden wir innere Antikörper gegen die Kriegsbegriffe, wir erleben diese nicht mehr als bedrohlich, sie machen uns keine Angst mehr. Die ständige Wiederholung neutralisiert die Bedrohlichkeit, die Reaktionen laufen automatisch und weitestgehend unbewusst ab. Ich möchte das als “semantische Immunisierung” bezeichnen. Die Semantik ist die Wissenschaft von der Bedeutung der Zeichen. Wenn wir semantisch immun gemacht werden, verlieren Kriegszeichen ihre Bedeutung und können auch im zivilen Leben eingesetzt werden, weil sie nicht mehr an einen Kriegsschauplatz gebunden sind. Genau das erleben wir gerade. Die Kriegsbegriffe werden zunächst an das Virus gekoppelt, um sie später wieder davon zu lösen und unabhängig von ihrem Ursprung verwenden zu können.
Ich halte den Kriegsbegriff aus einem weiteren Grund für falsch und gefährlich, obwohl man gemäß seiner Definition bei Wikipedia durchaus zu einer anderen Einschätzung kommen könnte. Dort heißt es:
“Krieg ist ein organisierter und unter Einsatz erheblicher Mittel mit Waffen und Gewalt ausgetragener Konflikt, (…) an dem planmäßig vorgehende Kollektive beteiligt sind.” Im Prinzip stimmt das. Weltweit versuchen Kollektive derzeit ihre Einsätze zu planen, mit den Waffen und der Gewalt, die der modernen Pandemiebekämpfung zur Verfügung stehen.
Weiter heißt es: “Ziel der beteiligten Kollektive ist es, ihre Interessen durchzusetzen.” Stimmt für das Virus wie für die Menschheit.
“Der Konflikt soll durch Kampf und Erreichen einer Überlegenheit gelöst werden.” Stimmt auch!
“Die dazu stattfindenden Gewalthandlungen greifen gezielt die körperliche Unversehrtheit gegnerischer Individuen an und führen so zu Tod und Verletzung.” Stimmt.
“Neben Schäden an am Krieg aktiv Beteiligten entstehen auch immer Schäden, die meist eher unbeabsichtigt sind. Sie werden heute euphemistisch als Kollateralschäden bzw. Begleitschäden bezeichnet. Krieg schadet auch der Infrastruktur und den Lebensgrundlagen der Kollektive.” Das stimmt wohl auch.
Warum können alle Definitionsmerkmale eines Krieges richtig und der Begriff trotzdem falsch sein? Es ist diesmal nicht der Begriff, der falsch ist, sondern der Kontext. Viren und Bakterien sind schon seit Menschengedenken Teil von uns und unser Umwelt. Wir mussten und müssen uns tagtäglich mit ihnen auseinandersetzen, um zusammenzufinden. Auseinandersetzen, um zusammenzufinden ist aber klassische Diplomatie. Es ist eben kein Krieg. Viren haben uns nie den Krieg erklärt! Wir haben die Kriegserklärung ausgesprochen, im wahrsten Sinne des Wortes (s. Emmanuel Macron). Dieser semantische Angriff gilt daher weniger dem Virus selbst als vielmehr der Implementierung kriegerischer Begriffe im Kollektiv des Wirts! Die virologische Kriegserklärung von Regierungen könnte man als allergische Reaktion bezeichnen: Die semantische Antwort auf das auslösende Agens ist überschießend und unangemessen, und sie zerstört basale Strukturen des Wirts, also der Gesellschaft. Um nicht missverstanden zu werden: Damit sind nicht die Maßnahmen zum gesundheitlichen Schutz der Bevölkerung gemeint, auch wenn diese auch durchaus kontrovers diskutiert werden.
Wir brauchen Immunität gegenüber dem Virus, nicht gegenüber den Kriegsmetaphern!
eisenreich@uexkuell-akademie.de
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