Wir sind nicht im Krieg

Mitmenschen oder mit Menschen?

Von Wulf Bertram

“Es gäbe so viel zu sagen, wenn man nur wüsste was.” In Anlehnung an diesen Spruch, mit dem Rolf Adler seine Vorträge zu beenden pflegte, muss ich wohl beginnen. Denn er beschreibt meine Stimmung ziemlich genau. Da geht es uns allen offensichtlich ähnlich, von Zerrissenheit, Ambivalenz, Ratlosigkeit und Unsicherheit bei der “Lagebeurteilung” ist auch die Rede.

Wenn es gut läuft, könnte diese Krise Solidarität, Gemeinsinn, Abkehr oder zumindest Infragestellung von kapitalistischer Gier und Zuwendung zu humanistischen Werten bringen.

Wenn es schlecht läuft, könnten Egoismus, Nationalismus, Zustimmung zu der Einschränkung demokratischer Rechte, Zunahme autoritätsfixierter Tendenzen (der Wunsch nach einem “starken Mann”, eher noch als nach einer einer “starken Frau” in Wissenschaft und Politik) und eines kritiklosen bürgerlichen Gehorsams dabei herauskommen.

Wenn sich gar nichts ändern würde, wäre es ebenfalls schlecht gelaufen. Wir hätten nichts gelernt, auch wenn es dann immerhin nicht schlimmer wäre als vorher und ohnehin.

Für beide Alternativen gibt es Symptome. Zuerst die gute Nachricht: ich erlebe im Kleinen trotz 1,5 m Abstands vielfach mehr Nähe als üblich. An den Laternenmasten kleben Abreißzettel mit Telefonnummern von Menschen, die gefährdeten oder eingeschränkt mobilen Mitmenschen Hilfe anbieten. Am Basketballkäfig auf dem großen Platz in der Nähe hängen zahlreiche Beutel mit Lebensmitteln und Bekleidung für Menschen ohne ein Dach über dem Kopf, darunter auch mehrere der größten Kostbarkeiten in momentaner Währung, nämlich Plastiktüten mit Klopapierrollen. Ganze Wohnblocks singen Bella ciao als Solidaritätsadresse an die “italienischen Brüder und Schwestern”, klatschen gemeinsam aus Dankbarkeit für Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonen und Supermarktangestellte. Mal sehen, was davon übrig bleibt.

Die Kehrseite der Medaille: schlägt sich beispielhaft in einem Videoclip nieder, den mir jemand weitergeleitet hat. Der wurde ihr von gleich drei italienischen Freunden ohne irgendeinen kritischen Kommentar zugespielt: Ein relativ bekannter Schauspieler ergeht sich in einer professionell performten Hasstirade gegenüber den „tedesssschi“. Das Wort spricht er mehrfachaus, genüsslich mit mindestens vier “s” in die Länge gezogen, was wohl die Assoziation an die SS wecken soll. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass Deutschland gemeinsam mit Österreich und Finnland, ich glaube auch den Niederlanden, die Einrichtung von Eurobonds verhindert hat. Ich bin finanzpolitisch viel zu unkundig, um beurteilen zu können, warum die Nordlichter so entschieden haben, hatte aber aus den Kommentaren gehört, dass Alternativen zu den Eurobonds in der Diskussion sind und dass Italien und den anderen stark betroffenen Ländern auf jeden Fall geholfen werden soll. Sollte das tatsächlich nicht geschehen, wäre das das Aus für den europäischen Gedanken, dem diese Hasspredigt allerdings auch nicht gerade gerecht wird, ebenso für meine eigenen humanistisch-europäischen Hoffnungen. Es ist schockierend, wie viel Ressentiments offensichtlich noch unter der Oberfläche der europäischen Brüderschaft brodeln.

Noch ein anderer Punkt: wieder so ein Clip aus der WhatsApp-Community. Der albanische Präsident Edi Rama hält in perfektem Italienisch (Albanien war ja von Italien besetzt) eine Ansprache an 13 Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonen, die “als Reservisten” (sic!) zu einem Einsatz an die “Feuerlinie” (nochmal sic!) im Krieg (sic!sic!) gegen das Virus geschickt werden. Dabei benutzt er das Wort Krieg in einer zweieinhalb Minuten langen Ansprache fünfmal. Auch das ist beunruhigend, weil es gegen die Vorstellung desensibilisiert, dass ein Krieg, frei nach Clausewitz, die Fortsetzung der Politik bzw. der Therapie mit anderen Mitteln sein könne. Rama ist nicht nur Politiker, sondern auch Künstler, war in der albanischen Wende engagiert und ist ein überzeugter Europäer. Und die Geste der Solidarität gegenüber dem ehemaligen Besatzer Italien, der das Land 1939 annektierte, ist sicherlich großartig und es verbietet sich jede Kritik daran. Aber umso gefährlicher ist die einschleichende verbale Bereitung der Salonfähigkeit des Krieges zumindest auf der semantischen Ebene im Kampf gegen Covid-19 – schon wieder reingefallen! – auch das Wort Kampf hat eine martialische Herkunft, wie viele unserer medizinischen Begriffe. Schwierig, irgendeinen anderen zu finden. Vielleicht wäre es angemessener, von einer Verteidigung gegen eine biologische Bedrohung unserer Spezies zu sprechen?

Vielmehr, als mich theoretisch mit solchen Gedanken zu beschäftigen, fällt mir im Moment nicht ein. Dazu habe ich den Text von Frau Assmann mit großem Interesse und Gewinn gelesen, vielen Dank dafür. Mir geht es ähnlich dabei, er hilft mir, meine Gedanken in diesen mentalen Turbulenzen zu ordnen.

Gerne würde ich, aus der Isolation in meinem Dachstübchen hinaus, mehr tun. Die Ärztekammer hat alle Kolleginnen Kollegen angeschrieben, ob sie bereit seien, für medizinische und logistische Tätigkeiten zur Verfügung zu stehen. Ich habe geantwortet, dass ich keine operativen, aber gerne meine psychotherapeutischen und psychiatrischen Fähigkeiten und Erfahrungen anbieten kann, etwa um zu einer Deeskalation bei drohender oder manifester häuslicher Gewalt beizutragen oder bei Angstzuständen oder Panikattacken zu helfen. Das gleiche Angebot habe ich auch an die Ärzte ohne Grenzen gemacht. Die Ärztekammer hat darauf bis jetzt nicht geantwortet, ist zur Zeit bestimmt auch überlastet, die Ärzte ohne Grenzen haben geschrieben, dass sie im Inland wohl vorerst nicht tätig werden. So bleiben im Moment nur kleine Ansatzpunkte, wie die Bestückung der Gabenwand mit gefüllten AIM-Taschen und freundliche Gesprächen mit den Mitmenschen, die ich treffe, wenn ich mal aus dem Haus gehe, unter anderem, um gelegentlich ungebetenen Rat zu hygienischen Vorsichtsmaßnahmen zu geben, was allerdings ganz gerne angenommen wird. Aber eigentlich ist mir das zu wenig.

Noch einmal zum Anfang: es gäbe noch so viel zu sagen, wenn … Ihr wisst schon.

Euch allen in Eurem Tun und Nachdenken eine glückliche Hand beziehungsweise einen ebensolchen präfrontalen Kortex und gelegentlich auch mal freundliche Grüße aus dem nucleus accumbens.

Herzlichst, Wulf Bertram

Seite drucken
Schlagworte für diesen Artikel:

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Schließen